„I can't tell if we're connecting, or if I'm creating a bad memory for you in real time.“
Regisseur Todd Haynes dürfte Filmliebhaber*innen vor allem durch „I´m Not There“ von 2007 bekannt sein. Ich hatte bisher aber noch nichts von ihm gesehen, weshalb ich sehr gespannt war auf sein neustes Werk „May December“ von 2023. Das düstere Drama erhielt zahlreiche Nominierungen und Preise, konnte bei den Oscars aber kurioserweise nur eine Nominierung für das beste Drehbuch einheimsen. Völlig zu Unrecht, denn dies ist ohne Zweifel einer der besten Filme des Jahres 2023. Und das soll wirklich was heißen, denn im selben Jahr erschienen moderne Meisterwerke wie „Poor Things“, „The Zone of Interest“ und „Past Lives“.
Die Handlung spielt im Jahre 2015: Die Schauspielerin Elizabeth Berry soll in ihrem nächsten Film die reale Person Gracie Atherton-Yoo verkörpern. Dafür reist Elizabeth zu Gracie und ihrer Familie, um ihr filmisches alter Ego zu studieren. Dabei hat Gracie eine teils verstörende Vergangenheit, da sie mit 36 eine „Beziehung“ mit dem 13-jährigen Joe anfing und dafür ins Gefängnis kam. Von Medien und Nachbarn wird diese dafür immer noch verachtet. Doch Elizabeth hat eine Faszination für diese Frau. Oder ist es eine Faszination für die Rolle?
„May December“ ist ein faszinierendes Drama mit teils humorvollen, aber auch sehr dunklen Momenten. Regisseur Haynes und seine Drehbuch-Duo Samy Bruch und Alex Mechanik präsentieren uns eine Geschichte über geraubte Existenzen. Was bedeutet es das Leben eines Menschen zu nehmen? Dabei geht es nicht um Mord, sondern um einen tatsächlichen Entzug der Existenz. Wir sehen diese Thematik auf mehreren Ebenen: Da wäre Gracie, die Joe einen Teil seines Lebens genommen hat, Elizabeth, die Gracies Leben nehmen und in eine filmisch, künstlerische Art pressen will und dann ist da noch eine Metaebene, in der die Schauspielerin Natalie Portman quasi das Gleiche mit ihrer Kollegin Julianne Moore macht. Und das beste ist, dass der Film uns sehr komplexe Figuren gibt, die gar nicht leicht zu durchschauen sind. Wie Elizabeth in einer Fragerunde an einer Schule sagt, dass sie die Charaktere für ihre Rollen aussucht, die sie nicht sofort verstehen kann. Und genau so ist es nicht immer klar, warum eine Figur das tut, was sie tut. Man kann es erahnen, aber der Film gibt uns nie eine klare Antwort.
Umso erstaunter war ich, als der Film dann endete. Die zwei Stunden sind an mir vorbeigeflogen und ich hätte problemlos noch eine Stunde mehr sehen können, weil ich unbedingt wissen wollte, wie es weiter geht. Das ist schon mal ein starkes Indiz dafür, dass mich ein Film in seinen Bann gezogen hat.
Ein anderer Aspekt dafür ist die großartige Regie von Haynes und das wirklich starke Drehbuch (völlig zu Recht gab es hier eine Oscar-Nominierung). Einen großen Anteil an der Authentizität des Films haben aber natürlich auch die Darsteller*innen. Sowohl Julianne Moore als auch Natalie Portman hätten eine Nominierung für ihre Performances verdient, sie sind absolut großartig! Wer mich ebenfalls beeindruckt hat, war Charles Melton, der mich mit seinem detailreichen Spiel besonders berührt hat. Auch er hätte eine Nominierung mehr als verdient.
Der Piano-Score von Marcelo Zervos und Michel Legrand war passend und hatte einen unangenehm, passenden Klang für die Story. Und die Kameraarbeit von Christopher Blauvelt war hypnotisch und verträumt.
Fazit: „May December“ ist ein extrem faszinierendes Werk über die dunklen Abgründe in uns allen. Fantastische Schauspieler*innen, ein tolles Drehbuch und auch visuell wird einem hier viel geboten. Absolut sehenswert!