Von wegen ländliche Idylle!
Von Lutz GranertDas Landleben ist längst nicht nur idyllisch: Das Bestellen der Felder, die Versorgung der Tiere und das regelmäßige Melken der Milchkühe sind harte Arbeit – die trotz der allgemeinen Wahrnehmung nicht nur von Männern übernommen wird. Auch Frauen packen auf den Bauernhöfen kräftig mit an – das weiß die junge Filmemacherin Justine Bauer aus ihrer eigenen Kindheit. Sie wuchs auf einem Bauernhof in der Region Hohenlohe in Baden-Württemberg auf, bevor sie nach dem Schulabschluss erst Bildende Kunst in Leipzig, später Spielfilmregie und Drehbuch an der Kunsthochschule für Medien in Köln studierte.
In ihrem Debütfilm „Milch ins Feuer“ kehrt sie wieder an den Ort ihrer Kindheit zurück – und setzt dabei auf größtmögliche Authentizität: Große Teile des Casts bestehen aus Laienschauspielerinnen vor Ort, für die Rolle der Großmutter besetzte sie ihre eigene Oma – und gesprochen wird die für die Region typische (und gewöhnungsbedürftige) hohenlohische Mundart. Während die rein weibliche Erzählperspektive und der naturalistische Ansatz überzeugen, offenbart die formale Strenge auch ihre Schattenseiten.
Es ist Sommer, und die junge Katinka (Karolin Nothacker) hat sich gerade dafür entschieden, den elterlichen Bauernhof in der nächsten Generation weiterzuführen. Doch abgesehen vom Baden im Fluss mit ihren Schwestern sowie Freundin Anna (Paula Bullinger) sind die Momente zum Genießen der Landidylle rar gesät. Katinkas desillusionierte Mutter Marlies (Johanna Wokalek) überlegt, wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten in einem Supermarkt anzuheuern, der verzweifelte Nachbar (Martin Bauer) macht mit mehreren Protestaktionen auf den Verfall der Milchpreise aufmerksam. Und dann ist Anna auch noch ungewollt schwanger...
Regisseurin und Drehbuchautorin Justine Bauer ist ein starker formaler Gestaltungswillen anzumerken. So hat sie ihren Film nicht nur im engen Vollbildformat (4:3) gedreht, immer wieder setzt sie auch auf lange Einstellungen und ungewöhnliche Perspektiven. Schon die Eröffnungsszene ist fordernd: Vier Minuten lang schwingt eines der Mädchen vom unteren Bildrand aus mit einer Schaukel über einen Fluss hinweg, während eine Off-Stimme von ländlichen Traditionen berichtet.
Bei den Mundart-Gesprächen über schlechte Tomatenernten und verfallende Milchpreise oder einer Fahrt durch ein ehemaliges Bauernhof-Areal, das inzwischen einem Neubaugebiet mit Eigenheim gewichen ist, schimmert immer wieder durch, wie sehr das bäuerliche Leben heute gefährdet ist. Die Laiendarstellerinnen um Karolin Nothacker und ihre Schwestern punkten derweil durch unverstellte Natürlichkeit und stehlen damit sogar der gestandenen Schauspielerin Johanna Wokalek („Sisi & ich“) die Show. Und doch: Bei der sperrigen und zähen Aneinanderreihung von zuweilen dokumentarisch anmutenden Alltagsszenen aus dem Landleben will sich nie ein wirklicher Erzählfluss einstellen.
Zusammengehalten wird das preisgekrönte, in hitzige Farbtöne getauchte Drama vom allegorischen Umgang mit dem Thema Fortpflanzung. Der sporadisch einsetzende Voiceover vergleicht etwa das Verpressen von Stroh durch Landmaschinen mit einem Geburtsvorgang, die Mädchen kleben sich als Fruchtbarkeitssymbol geltende Schnecken ans Bein, und Katzenbabies werden in einen Sack gesteckt und in einer Tonne zum Ersaufen in den Fluss gerollt. Am Ende wird in einer minutenlangen Einstellung ein Lama kastriert – und der abgeschnittene Hoden dem Hund zum Fraß vorgeworfen.
An den wenigen männlichen Protagonisten lässt Justine Bauer im Übrigen kein gutes Haar: Katinkas großer Bruder Adrian (Johannes Nothacker) soll eigentlich nach alter Tradition den Bauernhof erben – wirkt aber im Umgang mit seiner bevorstehenden Vaterrolle wie ein ratloser Schuljunge. Der Nachbar ruft für eine Protestaktion zuerst die Lokalpresse für inszenierte Fotos herbei, bevor er sich auf einem fremden Grundstück das Leben nimmt. „Milch ins Feuer“ rechnet nicht nur mit den romantischen Vorstellungen des Landlebens ab – sondern auch mit dem bäuerlichen Patriarchat. Mit seinen vielen dramaturgisch oft isoliert stehenden Einzelszenen lässt er allerdings zugleich auch etwas ratlos zurück.
Fazit: Mit erfrischend feministischer Perspektive sensibilisiert Justine Bauer für die bäuerlichen Nöte in der Region Hohenlohe. Dabei gerät das Debütwerk durch seine formale Strenge allerdings etwas zäh.