Die Idee zu „Cassandra“ hatte „All You Needׅ“-Macher Benjamin Gutsche schon vor einigen Jahren. Damals sollte die Geschichte über ein Smart Home, das ein gefährliches Eigenleben entwickelt, aber lediglich in der nahen Zukunft angesiedelt sein. Doch hier kam ihm die dystopische Netflix-Hit-Serie „Black Mirror“ schließlich zuvor. Also ging Gutsche den umgekehrten Weg in die Vergangenheit – und schuf somit etwas ganz Eigenes.
Wir haben mit dem Autor und Regisseur über diesen Entstehungsprozess und die deutsche Genre-Landschaft allgemein gesprochen – und auch darüber, wie ein ganz bestimmter Ohrwurm in seine neue Serie Einzug gefunden hat...
Tom Hollands Hintern
FILMSTARTS: Die wichtigste Frage zuerst: Habt ihr Tom Holland gefragt, ob ihr einen Song über seinen Hintern schreiben dürft?
Benjamin Gutsche: (lacht) Nein, aber vielleicht reagiert er ja drauf und sagt uns, wie er es findet. Das ist eine Idee gewesen, die relativ spontan im Drehbuch-Prozess kam. Und in der queeren Community ist das Reden über Toms Hintern tatsächlich sehr verbreitet und deswegen habe ich das mit eingebracht. Ich finde auf jeden Fall, dass es ein Ohrwurm geworden ist. Also ich habe den danach sehr lange gesummt.
FILMSTARTS: Das ging mir ähnlich. Und durch die globale Verfügbarkeit bei Netflix ist es ja auch nicht völlig ausgeschlossen, dass er es vielleicht eines Tages zu hören bekommt...
Benjamin Gutsche: Ich werd’s verfolgen...
FILMSTARTS: Aber apropos Netflix-Verfügbarkeit. Mit Serien wie „Arthurs Gesetz“ und vor allem „All You Need“ hast du in den vergangenen Jahren zwar schon echt einiges an Aufmerksamkeit bekommen. Aber Netflix ist noch mal ein anderes Kaliber, mit einem potentiellen Millionenpublikum weltweit. Macht das was mit einem, wenn man an einem solchen Projekt arbeitet, oder blendet man das währenddessen komplett aus?
Benjamin Gutsche: Man muss es ein bisschen ausblenden, um nicht Gefahr zu laufen, die ganze Zeit darüber nachzudenken, wer das alles weltweit sieht. Das Wichtigste für mich ist immer die Frage: Würde ich selbst diese Serie oder diesen Film schauen wollen? Da gehe ich auch mal sehr nach meinem Bauchgefühl und frage mich: Ist das etwas, was ich schon gesehen habe? Würde es mich langweilen oder wie kriege ich da einen neuen Spin rein? Wie kann ich entertainen? Aber zu wissen, dass die Möglichkeit besteht, dass man das überall schauen kann und die Leute auch darauf reagieren, sorgt jetzt im Nachhinein schon für Aufregung. Am Set ist man aber unter einer Bubble und darauf konzentriert, dass alles irgendwie gut läuft, und nicht darauf, wo das später überall gezeigt wird...
FILMSTARTS: Und ob Tom Holland es irgendwann mal sieht.
Benjamin Gutsche: Genau. (lacht)

FILMSTARTS: Stand denn von Anfang an fest, dass „Cassandra“ zu Netflix kommt? Wie ist überhaupt alles zustande gekommen? Wie bist du auf die Idee gekommen?
Benjamin Gutsche: Auf die Idee gekommen bin ich schon vor ein paar Jahren. Ich hatte überlegt, eine Serie zu machen, die in der nahen Zukunft spielt. Und dabei bin ich schnell auf das Thema Smart Home gekommen und wie Technik zu Hause die Kontrolle gewinnen und unser Leben kontrollieren kann. Zur gleichen Zeit kam auf Netflix aber „Black Mirror“ raus und ich dachte mir: Die haben genau das jetzt schon gemacht und so super, dass ich nur verlieren kann, wenn ich versuchen würde, eine einzelne Folge von „Black Mirror“ auf sechs Folgen auszudehnen.
Daher wollte ich das Ganze schon ad acta legen, bis ich die Idee hatte, die Geschichte nicht in der nahen Zukunft anzusiedeln, sondern stattdessen mit dem ältesten Smart Home Deutschlands um die Ecke zu kommen. Wir sagen, das ist schon in den 70er Jahren entstanden und die KI ist nicht nur KI, sondern basiert tatsächlich auf einem Menschen, der da mal gewohnt hat. Und so hat sich plötzlich eine ganz andere Geschichte draus gesponnen und ich habe gedacht: Okay, das habe ich noch nicht gesehen, das würde ich gerne sehen wollen.
Dabei habe ich mich immer weiter wegbewegt von klassischer Science Fiction und mehr hin zu einem Retro-Sci-Fi-Thriller. Und es gibt auch märchenhafte Aspekte, gerade wenn man sieht, was mit der Frau in der Vergangenheit passiert ist. Da wurde mir klar: Das ist was Besonderes. Und dann sind wir damit zu Netflix gegangen, haben angeklopft und die waren sofort Feuer und Flamme. Das war natürlich toll. Auch im weiteren Prozess, weil sie meine Vision sofort verstanden haben, mit so viel Leidenschaft dabei waren und mir die Mittel und Möglichkeiten zur Verfügung gestellt haben, damit das sehr schnell an Fahrt aufnehmen konnte. Und jetzt sitzen wir hier, zwei Jahre, nachdem ich das letzte Buch fertiggestellt habe.
Streaming vs. klassisches Fernsehen
FILMSTARTS: Denkst du, es wäre überhaupt möglich gewesen, so eine Serie wie „Cassandra“ im klassischen Fernsehen zu machen?
Benjamin Gutsche: Die hätte dort am Ende wahrscheinlich anders ausgesehen. Ich weiß nicht, inwiefern es möglich gewesen wäre, die Idee da so umzusetzen, wie wir es jetzt gemacht haben. Wir gehen ja teilweise in sehr dunkle Abgründe, wollen aber zugleich auch unterhalten und die Leute aus der Realität in eine andere Welt entführen. Im klassischen Fernsehen wird natürlich oft auf die Quote geschaut, weil es hauptsächlich um die Auswertung in Deutschland geht. Da hätte sich schnell die Frage gestellt, ob so ein Stoff überhaupt das Potential hat, ein breites Publikum abzuholen.
Bei Netflix wird zwar auch lokal gedacht und erst einmal geschaut, dass ein Titel hier funktioniert. Aber gleichzeitig wird so eine Serie auch für ein globales Publikum angeboten. Da ist natürlich eine ganz andere Reichweite da, sodass man eine viel größere Möglichkeit hat, das an den Mann und die Genre-Fans zu bringen. Wir haben nie versucht, es im klassischen Fernsehen unterzubringen, auch aus der Sorge heraus, dass wir dann vielleicht zehn Jahre brauchen, bis wir jemanden überredet bekommen. Und bei Netflix bin ich offene Türen eingerannt und deswegen ist es gut, dass es da gelandet ist.

FILMSTARTS: Genrestoffe haben es in Deutschland immer ein bisschen schwer, auch wenn sich gerade im Streaming-Bereich inzwischen einiges getan hat. Siehst du da eine positive Entwicklung, die vielleicht noch stärker ins klassische Fernsehen überschwappen könnte? Oder auch ins Kino?
Benjamin Gutsche: Es ist die Gnade der späten Geburt, dass ich in einem Zeitalter lebe, wo ich jetzt genau solche Genreserien erzählen kann. Ich bin mit Steven Spielberg aufgewachsen, „Jurassic Park“ war damals einer meiner ersten Filme, die ich im Kino gesehen habe. Ich bin ein Riesenfan von allem Fantastischen und Genrestoffen. Im Streaming haben wir gerade auch in Konkurrenz zum klassischen Fernsehen die Möglichkeit, im Genre zu experimentieren. Das war in den vergangenen Jahrzehnten nicht wirklich möglich, denn sobald ein Misserfolg da war, hieß es, dass es nicht funktioniert.
Doch wir Filmemacher konnten dadurch gar nicht erst die nötige Erfahrung sammeln und ausprobieren, was wie funktioniert. Bei „Cassandra“ konnte ich nun aber genau so rangehen. Wenn es mir darum ging, Spannung zu erzeugen, habe ich mir etwa haufenweise Serien oder Filme angeguckt, bei dem ich mich zu Hause ins Sofa gekrallt habe. Und dann wollte ich wissen: Warum hat das eigentlich so gut funktioniert?
Schon bei einem meiner ersten Kurzfilme – ein Zombiefilm für Kinder – habe ich gemerkt, dass ich einen wahnsinnigen Zugang zum Genre habe und das auch ziemlich gut umsetzen kann, auch weil sich die Kinder ganz schön erschreckt haben. Dank Netflix passiert im Genre-Bereich jetzt etwas. Man öffnet sich, weil man merkt, dass die Leute auch das sehen wollen. Vorher hat man in der Hinsicht nur auf amerikanische Sachen vertraut, weil die sich bewiesen hatten. Doch inzwischen schaut man mehr und mehr auch nach Europa und merkt: Die können das ja ebenfalls wahnsinnig gut. Da haben wir in den letzten fünf Jahren viel gelernt. Und ich hoffe, dass es auf das Kino überspringt. Aber beim Streaming hat man zumindest bis jetzt mehr Möglichkeiten, genau solche Stoffe zu erzählen.

FILMSTARTS: Es ist ja auch immer eine Wechselwirkung. Auch das Publikum scheint mir beim Streaming durch die leichte Verfügbarkeit und Bequemlichkeit etwas bereiter zu sein und so etwas zu Hause schneller mal zu probieren, als sich wirklich dafür aus dem Haus zu begeben und ein Kinoticket zu kaufen.
Benjamin Gutsche: Ich frage mich etwa auch bei sowas wie „Who Am I“, was ja auch ein Genre-Stoff war und erfolgreich im Kino lief: Hätten wir da gleich nachlegen müssen, um das Genre-Kino voranzutreiben? Doch leider kam dann jahrelang nichts in die Richtung. Man sollte aber auch im deutschen Kino in Sachen Genre einfach mal mehr experimentieren. Denn ich glaube schon, dass die Leute dafür auch ins Kino gehen werden, wenn sie erst einmal überzeugt sind, dass es hierzulande funktioniert.
FILMSTARTS: Ich hoffe auf jeden Fall auch, auf mehr große Genre-Unterhaltung aus Deutschland auf der großen Leinwand. Aber mit „Cassandra“ kommt ihr dank der Premiere bei den Fantasy Filmfest White Nights ja jetzt sogar dorthin. Wie fühlt sich das so an, dass deine Serie sogar im Kino gezeigt wird?
Benjamin Gutsche: Da freue ich mich natürlich. Netflix hat ja ohnehin den Anspruch, Kino für zu Hause zu machen. Und mein Kameramann J. Moritz Kaethner und ich sind daher auch genau damit im Hinterkopf an die Serie rangegangen. Bei mir spielt die Visualität immer eine große Rolle, weil sie auf die Tonalität, die Stimmung und die Atmosphäre sehr einzahlt. Und das jetzt noch mal im großen Kino zu sehen, ist wirklich toll.
Ist eine 2. Staffel "Cassandra" möglich?
FILMSTARTS: „Cassandra“ erzählt als Miniserie eine eigentlich abgeschlossene Geschichte, aber das hat ja heute nicht immer was zu bedeuten. Meinst du, da wäre Potential für eine Fortsetzung? Oder ist die Story für dich abgehakt?
Benjamin Gutsche: Also ich bin mit dem Gedanken rangegangen, eine abgeschlossene Serie zu erzählen. Wenn man zwei, drei Jahre in so ein Projekt investiert, möchte ich mich danach auch wieder etwas Neuem widmen, neue Welten ergründen. Ich ruhe mich ungern auf Ideen aus, die ich schon mal hatte und die ich dann ausschlachte. Man sollte natürlich niemals nie sagen. Aber um eine zweite Staffel von „Cassandra“ zu machen, brauchst du wirklich eine fulminante Idee, die man so noch nicht erlebt hat und die ebenfalls Potential für sechs Folgen hat. Es darf nicht einfach Fanservice oder mehr vom Gleichen werden. Ich würde es auf jeden Fall nicht erzwingen.
Witzigerweise hat eine unserer Kameraassistentinnen mir schon eine Fortsetzung gepitcht. Darin geht es um eine Roboterkatze, die hochgeladen wird und das Ganze heißt dann „Cat-sandra“. Das wäre dann die zweite Staffel.
FILMSTARTS: Da wäre der Erfolg auf jeden Fall vorprogrammiert.
Benjamin Gutsche: Genau, Ideen gibt es, vielleicht gehen wir ja in ein ganz anderes Genre. (lacht) Aber nein, geplant ist das tatsächlich nicht.
FILMSTARTS: Das muss ja auch nicht immer sein. Florian David Fitz hat in unserem Interview zu „Das Signal“ etwa auch gesagt: „Enden sind was Tolles“. Und das sollte man gerade im Serienbereich viel öfter mal beherzigen.
Benjamin Gutsche: Das stimmt.
Wo die großen Stärken (und auch Schwächen) von „Cassandra“ liegen, könnt ihr in unserer Kritik zur Serie nachlesen:
Mystery trifft Sci-Fi – aber auch so gut wie in "Dark"? Unsere Kritik zur neuen deutschen Netflix-Serie "Cassandra"