
Wer an das indische Kino denkt, hat wahrscheinlich vor allem Bollywood im Kopf. Gegen die knallbunten Spektakel mit Shah Rukh Khan & Co. soll an dieser Stelle explizit nichts gesagt sein – und doch greift es zu kurz, die Filmgeschichte des südasiatischen Landes darauf zu reduzieren.
Besonders die Umbruchszeit nach dem Ende der Abhängigkeit Indiens von der Kolonialmacht Großbritannien – in deren Zuge sich erstmals eine eigenständige nationale Filmindustrie entwickelte – brachte ab den 1950er-Jahren eine enorm reiche Kinokultur hervor. Als Gegenentwurf zum kommerziellen Kino entwickelte sich dabei auch das sogenannte Parallel Cinema (auch „New Indian Cinema“ genannt) um Regisseure wie Ritwik Ghatak oder Satyajit Ray, die nach Wegen suchten, die sozialen und gesellschaftlichen Realitäten in ihrem Land erstmals auf der Leinwand abzubilden.
Das Hauptwerk dieser Bewegung ist dabei ganz sicher die sogenannte Apu-Trilogie von Satyajit Ray. In insgesamt rund sechs Stunden folgt der Meisterregisseur („Charulata“) dem titelgebenden Apu, der als Sohn einer armen Familie im ländlichen Bengalen geboren wird. Jeder der drei Filme ist dabei einem Abschnitt seines Lebens gewidmet: von seiner Kindheit („Pather Panchali“) über seine Jugend („Aparajito“) bis hin zum Erwachsenenalter („Apur Sansar“). Ray gelingt dabei das seltene Kunststück, epische Breite mit episodischer Erzählweise zu verknüpfen, nah an der Wirklichkeit zu sein und mit seiner poetischen Bild- und Formsprache trotzdem weit über reinen Naturalismus hinauszuweisen.

Doch übergeben wir das Wort an dieser Stelle einer absoluten Regie-Legende: Martin Scorsese! Anlässlich des 100. Geburtstags von Satyajit Ray hat es sich der „Taxi Driver“- und „GoodFellas“-Schöpfer nicht nehmen lassen, seiner Bewunderung für den Filmemacher im Allgemeinen und die Apu-Trilogie im Speziellen in einem Aufsatz für den Indian Express Ausdruck zu verleihen.
„In der vergleichsweise kurzen Geschichte des Kinos ist Satyajit Ray einer der Namen, die wir alle kennen sollten, dessen Filme wir alle sehen müssen“, schreibt Scorsese da. „Und zwar immer wieder – so wie ich es ziemlich regelmäßig tue.“
Martin Scorsese erklärt: Darum ist die Apu-Trilogie "ein Meilenstein"!
Der Oscar-Preisträger („Departed“) fährt fort und erklärt, warum besonders die drei Apu-Filme – die auch außerhalb Indiens viel Aufmerksamkeit erhielten, u.a. in Form von großen Preisen auf Filmfestivals wie Venedig – so bedeutend sind:
„Für uns im Westen war die Apu-Trilogie […] ein Meilenstein. Wir waren es gewohnt, Indien auf der Leinwand zu sehen, aber durch eine rein koloniale Brille. Das bedeutete natürlich, dass die Hauptfiguren westlich waren, und die ‚Statisten‘ – diejenigen, die für das lokale Kolorit und die Hintergrundkulisse sorgten – waren Inder. Wir hatten keine Ahnung, ob sich die Geschichten in Gujarat, Kaschmir, Westbengalen oder Maharashtra anspielten – es war einfach nur ‚Indien‘.“
Scorsese schwärmt weiter: „Die Bilder erzählten Geschichten aus dem Alltag auf eine Weise, die irgendwie dem italienischen Neorealismus ähnelte. Die Kunstfertigkeit, die Inszenierung – es raubte mir den Atem. Es war poetisch, unmittelbar, weitreichend und intim – alles auf einmal. [...] Ich war wie gebannt. Dieses bemerkenswerte Close-up von Apus Auge in ‚Pather Panchali‘, die Art, wie der Schnitt mit dem plötzlichen Ausbruch von Ravi Shankars Musik zusammenarbeitet – für mich war das einer dieser kostbaren Momente, die man nur im Kinosaal erlebt. Und es hatte einen tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluss auf mich als Filmemacher. Dabei war die Trilogie nur der Anfang eines der größten Œuvres der Filmgeschichte.“
Leider sind auf Amazon Prime Video zurzeit nur der zweite und dritte Apu-Film erhältlich, weshalb wir euch empfehlen würden, auf eine Komplettveröffentlichung zu warten – wenn es so weit ist, erfahrt ihr es natürlich bei uns. Bis dahin könnt ihr euch im nachfolgenden Artikel noch weitere filmische Inspiration von Martin Scorsese holen:
"Er wird euch lange verfolgen": Diesen viel zu unbekannten Horrorfilm hält Martin Scorsese für ein Meisterwerk