So viel mehr als "nur" ein Gerichtsfilm
Von Susanne Gietl„Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt.“ Wahrscheinlich wissen die wenigsten, an welcher Stelle genau sie im Strafgesetzbuch nachschlagen müssten, um diesen Absatz zu finden. Die zwölfjährige Titelfigur aus Christina Tournatzés‘ „Karla“ hat es hingegen nicht nur nachgeschlagen, sondern regelrecht verinnerlicht. Es ist der Paragraf 176.
Tournatzés blickt in ihrem Langfilmdebüt hinter den Paragrafen und widmet sich dem wahren Fall von Karla Ebel (Elise Krieps), die von ihrem Ziehvater Karl Ebel (Torben Liebrecht) missbraucht wurde. 1962 klagte sie aus eigener Kraft ihren Vergewaltiger an. Elise Krieps, die Tochter von Schauspielerin Vicky Krieps und Schauspieler Jonas Laux, feierte in der Rolle der jungen Protagonistin ihr Schauspieldebüt. Auf dem Filmfest München gewann „Karla“ – völlig zu Recht! – gleich zwei Förderpreise der Reihe Neues Deutsches Kino: für Christina Tournatzés feinfühlige Regie sowie für das Drehbuch von Yvonne Görlach, die darin konsequent mit gängigen Mustern bricht.
Ihre ersten Worte im Film spricht Karla im Polizeirevier: „Ich bin Karla Ebel. Ich bin zwölf Jahre alt und ich möchte Anzeige erstatten.“ Gegen Karl Ebel. Sie verlangt einen Richter zu sprechen und zitiert wortgetreu den Paragrafen 176. Man spürt: Dieses Mädchen hat sich genauestens vorbereitet. Während Karla und der Richter Lamy (Rainer Bock) in zahlreichen Gesprächen den Fall verhandeln, freundet sie sich im Mädchenwohnheim mit ihrer Wohngenossin Ada (Carlotta von Falkenhayn) an. Wenn die Freundinnen dort gemeinsam einen unbeschwerten Moment erleben, ermahnt eine Nonne Karla sofort, wie unangebracht das gerade in ihrer Situation doch sei.
Der Film wechselt zwischen den Perspektiven von Karla und Lemy. Der Richter pocht auf Fakten, während Karla stark bleibt und an für die Justiz wichtigen Stellen beharrlich schweigt. Das Mädchen gibt nicht alle Details der Vergewaltigung preis, um ihre Würde zu behalten. Selbst die Untersuchung beim Frauenarzt verweigert sie. Doch damit ein Beschuldigter bestraft werden kann, müssen Tat und Tathergang dokumentiert und genauestens geschildert werden – und so müssen die beiden einen Mittelweg in ihrer Kommunikation finden, um einander wirklich begegnen zu können.
Christina Tournatzés findet ein starkes Bild für Karlas selbstbestimmtes Schweigen: Immer, wenn Karla nicht sprechen möchte, verstummt sie mitten in der Schilderung eines Sachvorherganges, schlägt eine Stimmgabel an und setzt an anderer Stelle fort. Diese bruchstückhafte Erzählweise zieht sich auch durch die Wahl der Bilder. Die Vergewaltigung wird nie explizit gezeigt, stattdessen verwendet Tournatzés verschwommene Filmaufnahmen als Erinnerungsfetzen. Man hört das Brummen einer Fleischfliege, das man vorher schon einmal gehört hat. Kurz darauf ist Karla vor etwas weggelaufen.
Wie der Richter lernt auch das Publikum erst mit der Zeit, Klaras Andeutungen zu interpretieren. Man versteht aber auch, dass Karla Schwierigkeiten hat, an ihren schrecklichen Erinnerungen festzuhalten. Sie vergleicht ihre Welt mit der Welt der Kinder aus dem Fantasy-Roman „Die Chroniken von Narnia“: „Sie gehen in eine andere Welt. So geht es mir, wenn das passiert.“ Sie schlägt wieder die Stimmgabel an. „Ich verschwinde, irgendwie. An einen anderen Ort, wo alles anders ist. Und das Mädchen, dem das passiert ist, bin nicht ich.“
Damit Elise Krieps den Prozess unmittelbar erleben konnte, legte Tournatzés der jungen Schauspielerin nicht einfach das Drehbuch vor, sondern sprach stattdessen mit ihr über den Fall. Außerdem drehte Tournatzés mit ihr chronologisch. Nur tageweise erfuhr Krieps das ganze Ausmaß des Rechtsfalls. Erst spät bekam sie dann auf eigenen Wunsch das ganze Buch zu lesen. Krieps findet einen guten Ton zwischen Sprachlosigkeit und kontrollierter Rede, nimmt sich im Spiel zurück, spricht leise, aber bestimmt.
Man spürt den Mut, den das Mädchen aufzubringen vermochte, um sich dem Richter, welcher den für ihn hoffnungslosen Fall aus Imagegründen fast ablehnen wollte, entgegenzustellen. Mit den Worten von Mascha Kaléko überredet ihn seine Sekretärin (Imogen Kogge), die sich für das Mädchen von Anfang an einsetzt: „Es braucht nur eine Insel im weiten Meer. Es braucht nur einen Menschen, aber den braucht es sehr.“ Lamy wird von Karla auch eine Menge über Menschlichkeit lernen.
Fazit: „Karla“ ist viel mehr als ein Gerichtsdrama. Es ist ein Plädoyer für Menschlichkeit und das Recht auf Schweigen.
Wir haben „Karla“ beim Filmfest München 2025 gesehen, wo er seine Weltpremiere gefeiert hat.