Frankenstein
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Frankenstein

Gerechtigkeit für das "Monster"

Von Christoph Petersen

Als der Roman „Frankenstein“ von Mary Shelley im Jahr 1818 – zunächst noch anonym – erschien, lagen die Sympathien des zeitgenössischen Publikums überwiegend beim Wissenschaftler Victor Frankenstein. Erst in den zwei folgenden Jahrhunderten hat sich mehr und mehr die Lesart durchgesetzt, dass in Wahrheit nicht die künstlich erschaffene Kreatur, sondern ihr egomaner Schöpfer und eine intolerante Gesellschaft das eigentlich „Monströse“ in der Erzählung sind. Eine Lesart, die Guillermo del Toro in seiner 120 Millionen Dollar teuren Netflix-Blockbuster-Verfilmung noch einmal dick und fett unterstreicht!

Der Regisseur selbst bezeichnet den Universal-„Frankenstein“ von 1932 als „wichtigsten Film seiner Kindheit“, zudem hat er unter dem Titel „Guillermo del Toro: At Home With Monsters“ eine Wanderausstellung mit mehr als 900 Exponaten – von persönlichen Sammlerstücken über Requisiten seiner Filme bis hin zu „Monster-Weisheiten“ – kuratiert. Del Toro fürchtet keine Monster, er liebt sie! Und deshalb war es von Beginn seiner Karriere immer nur eine Frage der Zeit, bis er irgendwann einen eigenen „Frankenstein“ – quasi als Krönung seiner bereits in Meisterwerken wie „Pans Labyrinth“ oder „Shape Of Water“ gefrönten „Monster“-Faszination – inszenieren würde.

Dr. Victor Frankenstein (Oscar Isaac) ist wirklich zu allem bereit, um nach dem traumatisierendem Tod seiner Mutter künstliches Leben zu erschaffen. Netflix
Dr. Victor Frankenstein (Oscar Isaac) ist wirklich zu allem bereit, um nach dem traumatisierendem Tod seiner Mutter künstliches Leben zu erschaffen.

Dabei drückt Guillermo del Toro dem Originalstoff vor allem mit einem leicht abgeänderten, betont melodramatisch-kitschigen Ende – samt homoerotisch-inzestuöser Untertöne vor der Kulisse eines arktischen Sonnenuntergangs – seinen eigenen Stempel auf. Bis dahin aber hält sich der neue „Frankenstein“ sehr eng an die literarische Vorlage – inklusive der faktischen Zweiteilung, dass erst Victor und dann die Kreatur jeweils „ihre Seite“ der Geschichte erzählen:

Im Jahr 1857 steckt die arktische Expedition von Captain Anderson (Lars Mikkelsen) auf dem Weg zum Nordpol fest. Eines Nachts stößt die Crew auf den schwerverletzten Dr. Victor Frankenstein (Oscar Isaac), der von einem schwarzumhüllten, offenbar übermenschlich starken Monster (Jacob Elordi) über das Ewige Eis gejagt wird. Zunächst kann die Kreatur jedoch trotz einiger Verluste zurückgeschlagen werden …

… und Victor beginnt damit, dem Kapitän zu berichten, wie er nach dem unzeitigen Tod seiner Mutter (Mia Goth) bei der Geburt seines jüngeren Bruders William (Felix Kammerer) alles daran gesetzt hat, neues künstliches Leben zu erschaffen. Dank der finanziellen Förderung von Harlander (Christoph Waltz), dem Onkel von Victors angehender Schwägerin Elizabeth Lavenza (ebenfalls Mia Goth), ist es Victor schließlich möglich, seine ambitionierten Pläne in die Tat umzusetzen – mit ebenso tragischen wie blutigen Folgen…

Volle Kanne episch

Es gibt inzwischen derart viele „Frankenstein“-Adaptionen quer durch alle Medien und Genres, dass man sich durchaus fragen darf, ob es eine derart klassizistische Verfilmung wirklich noch braucht? Aber wer diese Frage zumindest nicht sofort mit einem klaren „Nein!“ beantwortet, sollte der Netflix-Adaption – besser direkt auf einer möglichst großen Leinwand als dann kurz darauf im Streaming – unbedingt eine Chance geben: Del Toro verzichtet zwar explizit auf einen frischen oder gar modernisierenden Ansatz, aber er inszeniert die bekannte Erzählung dafür mit einer wuchernden Exzessivität, die einen immer wieder überwältigt. Nach „Pacific Rim“ ist „Frankenstein“ del Toros bislang zweitteuerster Film – und das sieht man ihm in so gut wie jeder Einstellung an!

Ausstattung, Kostüme, Kulissen – man kann sich schon an den objektiv schönen Motiven des Films, vom Frankenstein’schen Familienschloss bis zum eingefrorenen Expeditionsschiff im arktischen Eis, kaum sattsehen. Aber natürlich kommt del Toro traditionell vor allem immer dann ganz zu sich, wenn er das Erhabene im Grausigen, Makabren oder Morbiden sucht (man denke nur an den Pale Man in „Pans Labyrinth“ oder die Bombe im Kinderheim-Innenhof in „The Devil’s Backbone“). In „Frankenstein“ wird del Toro etwa auf einem gefrorenen Schlachtfeld fündig: Während Harlanders Männer nach möglichen Forschungskadavern suchen, scheint im Vordergrund ein getöteter Reiter samt seines Pferdes noch im Stürzen eingefroren zu sein, eine Eisskulptur von geradezu verstörender Anmut.

Elizabeth Lavenza (Mia Goth) ist die Einzige, die Victor sofort durchschaut – und dem „Monster“ gegenüber vor allem mit Empathie und Mitgefühl begegnet. Netflix
Elizabeth Lavenza (Mia Goth) ist die Einzige, die Victor sofort durchschaut – und dem „Monster“ gegenüber vor allem mit Empathie und Mitgefühl begegnet.

Noch relativ zu Beginn tritt Victor zudem in einem Hörsaal vor die medizinische Fakultät, um den Stand seiner Forschungen zu präsentieren – und zwar anhand eines Kopfes mit zwei offenen Lungenflügeln und herabhängender abgerissener Wirbelsäule, den er mit Hilfe zweier Elektroden „zum Leben“ erweckt und sogar einen Ball fangen lässt. Bei der makabren Apparatur handelt es sich – wie in „Frankenstein“ ohnehin erfreulich oft – offensichtlich um einen praktischen Effekt, und nicht um irgendwelche CGI-Trickserien (und damit hat del Toro dann wohl auch direkt das nächste Highlight-Exponat für seine Monster-Ausstellung gefunden).

Hat man schon härteren Gore gesehen als in „Frankenstein“? Sicherlich! Aber auch anatomisch derart korrekten? Wohl kaum! Wenn die von Natur aus schüchterne und zärtliche Kreatur erst einmal loslegt, wird selbst Wölfen beim lebendigen Leib das Fell vom Kopf gerissen – oder sie werden einfach direkt in der Mitte durchgebrochen. Aber selbst wenn er in den blutigeren Action-Szenen definitiv keine Gefangenen macht, ist del Toro eben in Wirklichkeit doch auch ein ziemlicher Softie – und das merkt man dann wie gesagt spätestens im neu gestalteten Ende, das derart melodramatisch-kitschig (ich selbst bin großer Fan, aber einige werden es sicherlich auch unfreiwillig komisch finden) so auch gut in del Torros Gothic Romance „Crimson Peak“ gepasst hätte.

Fazit: „Frankenstein“ ist der Film, für den Guillermo del Toro geboren wurde – auch ohne große Neuerungen eine zugleich überwältigend monumentale und zutiefst persönliche Adaption des Horror-Klassikers. Mit ihr führt del Toro die Lesart, dass in Wahrheit das „Monster“ das Opfer ist, zu ihrem logischen – und dabei nicht nur exzessiv gorigen, sondern auch konsequent melodramatischen – Abschluss.

Wir haben „Frankenstein“ beim Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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