Plötzlich Familie
Von Björn SchneiderDie Pariser Regisseurin Carine Tardieu ist bekannt für ihre von leiser Ironie durchzogenen, dramatischen Komödien mit Tiefgang. Der Durchbruch gelang ihr 2017 mit „Eine bretonische Liebe“, vier Jahre später folgte „Im Herzen jung“ mit der langjährigen Truffaut-Muse Fanny Ardant. Tardieu erzählt oft und mit Leidenschaft von „unmöglichen“ Lieben, also von Beziehungen, die aufgrund komplizierter familiärer Verflechtungen oder des großen Altersunterschieds der Verliebten für allerlei Turbulenzen und Gefühlschaos bei den Betroffenen sorgen.
Tardieu stellt ihre Figuren außerdem gerne vor gewaltige Herausforderungen und konfrontiert sie mit schwer zu verkraftenden Schicksalsschlägen. Die Konzentration auf diese Inhalte zeigt sich auch in „Was uns verbindet“, Tardieus fünftem Spielfilm. Darin wird sehr schnell ein weiteres Erkennungsmerkmal von Tardieus Arbeiten deutlich. Schon in „Im Herzen jung“ ging es mit der 70-jährigen Protagonistin (gespielt von Ardant) um eine selbstbewusste Frauenfigur. Eine ebensolche starke, unabhängige Frau in ihren reiferen Jahren, die frei und fern gesellschaftlicher Konventionen lebt, sehen wir nun auch in „Was uns verbindet“.
Sandra (Valeria Bruni Tedeschi) ist Mitte 50 und liebt nichts mehr als ihre Ungebundenheit. Ihre Arbeit als Buchhändlerin erfüllt sie, zudem hat sie ein stabiles Netz aus langjährigen Freunden. Eines Tages müssen ihre Nachbarn, Alex (Pio Marmaï) und Cécile (Mélissa Barbaud), ins Krankenhaus. Die Geburt ihres zweiten Kindes steht bevor. Spontan bietet Sandra, die keine Erfahrung mit Kindern hat, ihre Unterstützung an – und passt so auf Alex‘ sechsjährigen Stiefsohn Elliot (César Botti) auf. Unterdessen kommt es im Krankenhaus zu einer Tragödie: Cécile überlebt die Geburt ihrer Tochter Lucille nicht.
Unverhofft findet sich Sandra in einer Rolle wieder, mit der sie nie gerechnet hätte. Sie beschreitet einen bislang unvorstellbaren Lebensweg und verbringt immer mehr Zeit mit ihrer „neuen Familie“. Für Elliott und Alex entwickelt sich Sandra zunehmend zur wichtigen Bezugsperson. Schwierig wird es, als neue, verwirrende Gefühle Einzug halten, die das Verhältnis zwischen Sandra und dem 15 Jahre jüngeren Alex zunehmend belasten…
Als Zuschauer*in verfolgen wir das emotionale Treiben und den Alltag rund um Sandra und ihre Nachbarn, deren Verhältnis über ein rein nachbarschaftliches schon bald hinausreicht. Untermalt werden die Geschehnisse von einem treibenden Soundtrack, der stark von Swing-Elementen durchzogen ist. Akkordeon, Mandoline und gezupfte Gitarre kulminieren in einem unruhigen, aber mitreißenden Mix aus Jazz und Weltmusik – eine gelungene Anspielung auf den emotional instabilen Alex, dessen Vorliebe für diese „Gypsy-Jazz“ genannte Art der Musik im Film Erwähnung findet.
Die Handlung entfaltet sich über einen Zeitraum von zwei Jahren und schließt mit zunehmender Laufzeit immer mehr Nebencharaktere mit ein. Viele von ihnen sind sehr interessant, darunter David (Raphaël Quenard), Céciles Ex-Partner und der Vater von Elliot. Oder die Ärztin Emilia (Vimala Pons), deren Beziehung zu Alex im letzten Drittel im Zentrum steht. Ihnen allen, ebenso wie den Hauptfiguren, gesteht Carine Tardieu charakterliche Entwicklungen und einen Hang zu schwankenden Gemütslagen zu. Das macht sie menschlich, greifbar und authentisch – eine der großen Stärken von „Was uns verbindet“.
Eine Überforderung aufgrund der beruflichen wie privaten Lasten und Beschwernisse des Alltags ist bei nahezu allen Figuren auszumachen. Da ist der dauergestresste Alex, der – mit der Neugeborenen Lucille auf dem Arm – berufliche Telefonate führt und nebenbei den Abwasch macht. Oder Sandra, die viel zu oft am Smartphone klebt und überhaupt nie zur Ruhe kommt. Schließlich kämpft sie als Inhaberin eines spezialisierten Buchladens (Schwerpunkt: feministische Literatur) mit schwankenden Umsätzen und nervigen Verlagsmitarbeiter*innen. Entspannung verschafft ihr meist nur die Zigarette.
Auch Emilia mutet sich zu viel zu – zwischen ihrer eigenen Arztpraxis und einem Aushilfsjob in der Klinik. Dass sich die Protagonist*innen bei all der Dauerüberforderung allmählich selbst schaden und die Beziehungen zu ihren Liebsten darunter leiden, liegt auf der Hand. Treffend bringt Elliott in einer mitreißenden Szene dieses Szenario und das Gewusel, das sich um ihn herum abspielt, auf den Punkt: „Erwachsene haben nie Zeit!“ „Was uns verbindet“ kann man also durchaus als filmische Bestandsaufnahme einer unter chronischem Stress leidenden Gesellschaft lesen. Das Gefühl, trotz aller Bemühungen dennoch nicht zu genügen, erschwert diese Versuche. „Ich bin nie stark genug“, sagt Sandra und fasst dieses Dilemma mit diesem Satz punktgenau zusammen.
Tardieu beweist bei ihrer Alltagsbeobachtung ein feines Gespür für kleine Gesten ebenso wie für nicht beeinflussbare Vorkommnisse und tragische Ereignisse, die das Leben noch einmal völlig neu ordnen. „Was uns verbindet“ ist im Kern ein Film darüber, sich selbst und seine Rolle im Leben zu finden – trotz oder gerade wegen aller Unabwägbarkeiten und Rückschläge. In den letzten 25 Minuten kommen einige Situationen und Wendungen allerdings zu bemüht daher. Wenn sich die Ereignisse gefühlt im Minutentakt überschlagen und die Konflikte allzu kalkuliert und programmatisch erscheinen, dann leidet darunter die Glaubwürdigkeit. Das spiegelt sich auch in einigen Dialoglinien wider, die stellenweise zu forciert und gestellt wirken. Soviel zusätzliches Drama und emotionalen Ballast hätte es gar nicht gebraucht, davon gab es in den 80 Minuten zuvor bereits genug.
Negativ fallen darüber hinaus einige nur schwer nachvollziehbare Verhaltensweisen auf, etwa von Emilia und Alex. Die Figuren verzetteln sich bisweilen in wenig glaubhaftem, widersprüchlichem Verhalten. Alex neigt zwar schon von Anfang an zu einer gewissen Wankelmütigkeit in seinen Entschlüssen, zudem ist er oft gereizt, was auch auf die Extremsituation nach dem Verlust der Partnerin zurückzuführen ist. Dennoch: Mit einer emotionalen Schieflage aufgrund der tragischen Ereignisse lässt sich zwar vieles erklären – aber nicht alles automatisch entschuldigen.
Alex-Darsteller Pio Marmaï, der hingebungsvoll und präzise agiert, ist daran schuldlos. Es ist das Drehbuch, das seiner Figur ein ums andere Mal fragwürdige Entscheidungen und ein solch unüberlegtes (triebgesteuertes?) Vorgehen aufbürdet, dass man sich aus einer neutralen Beobachtenden-Perspektive schon fragt: Hätte das nun wirklich sein müssen?
Ausgeglichen wird diese Schwäche vom tadellosen Cast. Die (Haupt-)Darsteller*innen kehren die emotionale Verletzlichkeit der Charaktere dank eines sensiblen, expressiven Spiels wahrhaftig nach außen. Allen voran Valeria Bruni Tedeschi („Die Linie“) ist als Sandra, die nie so genau weiß, wie viel Nähe sie zulassen darf und was vielleicht zu viel ist, brillant. Sie spielt diese Frau, die ihre eigenen Grenzen aufgrund der veränderten Umstände neu setzen muss, mit rückhaltloser Intensität.
Fazit: Mit Feingefühl und genauen Alltagsbeobachtungen entwirft das französisch-belgische Melodram „Was uns verbindet“ das Bild einer unabhängigen, ungebundenen Frau, deren Leben sich schlagartig ändert. Unerwartet übernimmt sie die unterstützende Rolle für eine trauernde Nachbarsfamilie. Der von einem herausstechenden Soundtrack getragene Film setzt im finalen Akt zwar zu sehr auf kalkulierte Drehbucheinfälle, überzeugt zuvor jedoch mit einer spannenden, vielschichtigen Betrachtung zeitgemäßer Themen. Es geht um Identitätsfindung, Überforderung, Verlustbewältigung und den Versuch – trotz aller gesellschaftlicher Erwartungen – seinen eigenen Weg zu gehen.