Beim ersten Mal auf Nummer sicher
Von Christoph PetersenAn einem späten Freitagabend feierte mit „The Chronology Of Water“ das Regiedebüt von Kristen Stewart („3 Engel für Charlie“) seine Weltpremiere beim Filmfestival in Cannes. Die Schauspielerin hatte acht Jahre lang für das Projekt gekämpft und schließlich sogar angekündigt, keine anderen Rollen mehr anzunehmen, bis sie das gleichnamige Buch von Lidia Yuknavitch verfilmt hat. Diesen Einsatz sieht man dem Ergebnis an: ein roher, wütender, ehrlicher, poetischer, überfordernder und zerbrechlicher Film, der auch aufgrund seiner Kompromisslosigkeit sicher nicht für jeden geeignet ist. Am Dienstagnachmittag folgte dann direkt das Regiedebüt eines weiteren Hollywood-Superstars, diesmal von MCU-Black-Widow Scarlett Johansson, die sich mit ihrer Rolle in „Jurassic World: Die Wiedergeburt“ schon in wenigen Wochen in das nächste Mega-Franchise einschreiben wird.
Auch „Eleanor The Great“ steckte acht Jahre lang in der Entwicklung fest – allerdings vor dem Dazustoßen von Johansson, die ihre guten Verbindungen in die Branche einbrachte, um die Finanzierung endgültig in trockene Tücher zu bringen. Nun will ich gar nicht sagen, dass sich Johansson in ein gemachtes Nest gesetzt hat – dass Regisseur*innen erst später in der Entwicklung zu einem Projekt dazustoßen, ist schließlich absolut üblich. Aber es ist schon sehr deutlich, dass sie dem Projekt – angefangen beim abgeänderten Titel – auch noch die letzten Ecken und Kanten abgeschliffen hat. „The Chronology Of Water“ ist ein Film, bei dem es von Anfang an darum ging, ein Ass zu schlagen oder ihn meilenweit ins Aus zu pfeffern. „Eleanor The Great“ hingegen ist ein Sicherheitsaufschlag, wie er im Buche steht – irgendwie reingeeiert, Hauptsache er geht ins Feld.
70 Jahre lang waren Eleanor (June Squibb) und Bessie (Rita Zohar) beste Freundinnen, die letzten elf Jahre haben sie sogar zusammengewohnt. Aber jetzt ist Bessie tot und Eleanor zieht aus Florida zu ihrer Tochter Lisa (Jessica Hecht) und ihrem Enkel Max (Will Price) nach Manhattan. Hier ist nicht nur das Wetter schlechter, Eleanor wüsste auch gar nicht, was sie den lieben langen Tag im unpersönlichen Big Apple unternehmen sollte. Deshalb schickt Lisa ihre Mutter ins jüdische Gemeindezentrum, wo sie im Chor mitsingen soll – aber Eleanor verwechselt den Raum und findet sich so unverhofft in einer Selbsthilfegruppe für Holocaust-Überlebende wieder.
Nachdem sie zunächst noch versucht, sich der Situation zu entziehen, erzählt sie dann doch davon, welche Schrecken sie damals erlebt hat und wie ihr Bruder ermordet wurde. Das Problem ist nur: Eleanor hat den Holocaust gar nicht erlebt – sie wurde im Mittleren Westen geboren, hat den jüdischen Glauben überhaupt erst im Jahre 1953 angenommen. Aber als ob das nicht schon schlimm genug wäre, plant die Journalismus-Studentin Nina (Erin Kellyman) auch noch eine Reportage über „ihre“ Geschichte – und Ninas Vater, ein berühmter TV-Nachrichtensprecher (Chiwetel Ejiofor), signalisiert ebenfalls schon Interesse…
Die 1929 geborene June Squibb arbeitet seit 1950 als Schauspielerin, ist seit 1985 regelmäßig im TV und im Kino zu sehen. 2002 verkörperte sie die verstorbene Frau von Jack Nicholson in „About Schmidt“, 2013 wurde sie für ihre Leistung in „Nebraska“ (ebenfalls von Alexander Payne) für den Oscar als Beste Nebendarstellerin nominiert. Ihr Markenzeichen: ein trockener, frecher, altersunangemessener, aber trotzdem charmanter Humor, der ein bisschen an die furchtlose Betty White erinnert und Adam Sandler davon überzeugte, sie in „Hubie Halloween“ zu besetzen, wo sie ständig T-Shirts mit anzüglichen Aufschriften trägt, die man anschließend am liebsten sofort alle kaufen würde. Und trotzdem hat es bis 2024 gedauert, ehe June Squibb im Alter von 94 (!) Jahren ihre erste Kinohauptrolle bekommen hat:
In „Thelma – Rache war nie süßer“ verkörpert sie eine Seniorin, die ihr ganzes Geld an eine Trickbetrügerei verliert und es sich nun zurückholen will, koste es, was es wolle. Man kann das gut als „Fast & Furious“ für die Ü90-Generation beschreiben – nur eben mit elektrischem Mobilitätsroller statt hochgetuntem Muscle-Car. Aber während Stoff und Humor in „Thelma“ perfekt zusammenpassen, wird Squibb in „Eleanor The Great“ nur zu Beginn wirklich von der Leine gelassen – etwa wenn sie einen armen Supermarktgehilfen zur Schnecke macht, weil dieser es gewagt hat zu sagen, dass doch eh alle eingelegten Gurken gleich schmeckten und er doch jetzt nicht extra die koscheren aus dem Lager holen müsse. Sogar in der Synagoge darf Squibb einmal den Mittelfinger zeigen, als sie um Ruhe angezischt wird.
Aber das war es dann auch schon. Anders als der für das beste Drehbuch oscarprämierte „A Real Pain“, der auch als den Holocaust behandelnde Tragikomödie Ambivalenzen ausgehalten hat, kommt „Eleanor The Great“ viel zu zahnlos daher: Direkt, nachdem wir Eleanor zum ersten Mal in der Gruppe gesehen haben, gibt es sofort eine Rückblende, die auflöst, dass die „erlogene“ Holocaust-Geschichte in Wahrheit die von Bessie ist. Eleanor will einfach nur sicherstellen, dass die Erfahrungen ihrer besten Freundin nicht in Vergessenheit geraten. Wohl auch deshalb heißt der Film nun „Eleanor The Great“ statt wie ursprünglich „Eleanor, Invisible“: Es soll nicht mal für einen Augenblick die Möglichkeit im Raum stehen bleiben, dass Eleanor tatsächlich etwas Verachtenswertes tut.
So wirken auch die weiteren Verstrickungen moralinsauer, hölzern, leblos – vor allem der für seine Rolle in „12 Years A Slave“ oscarnominierte Chiwetel Ejiofor wirkt als Nachrichtensprecher nie wie ein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern nur wie ein schematisches Mittel zum Zweck. Und trotzdem haben auch wir wie die meisten im Kinosaal am Ende ein Tränchen verdrückt – denn selbst wenn Regie und Skript enttäuschen, gibt es an der Powerhouse-Performance der inzwischen sogar schon 95-jährigen June Squibb kein Vorbeikommen…
Fazit: Scarlett Johansson will bei ihrem Regiedebüt bloß nichts falsch machen – und genau das ist der Fehler. So entwickelt sich „Eleanor The Great“ trotz seiner provokanten Prämisse und der großartigen June Squibb zu einer schwerfälligen, moralinsauren Tragikomödie.
Wir haben „Eleanor The Great“ beim Cannes Filmfestival 2025 gesehen, wo er in der Sektion Un Certain Regard seine Weltpremiere gefeiert hat.