Das soziale Gewissen Frankreichs
Von Gaby SikorskiMarseille ist zwar nur die zweitgrößte Stadt Frankreichs, aber dafür die älteste. Schon in der Antike war die quirlige Hafenmetropole ein Knotenpunkt des Seehandels, und daran hat sich bis heute nichts geändert. Zugleich verdankte Marseille seinem Hafen und dessen Umfeld aber über viele Jahrzehnte hinweg auch sein Image als Zentrum für Drogenhandel, Prostitution und Bandenkriminalität, das sich ab den 1930er Jahren auch in zahlreichen Filmen wiederfand. So etwa in dem ikonischen Gangsterdrama „Der Mann aus Marseille“ mit Jean-Paul Belmondo. Seit der Jahrtausendwende hat sich das Image der Stadt jedoch stark verbessert. Verantwortlich dafür war vermutlich die Wahl zur Kulturhauptstadt Europas (2013) sowie ein gesteigertes kommunalpolitisches Engagement, das durch eine Katastrophe ausgelöst wurde: der Einsturz von zwei baufälligen Altstadthäusern in der Rue d‘Aubagne, bei dem zahlreiche Menschen unter den Trümmern begraben wurden.
Dieses Ereignis bildet auch den losen Rahmen für den neuen Film des französischen Sozialromantikers Robert Guédiguian („Das Haus am Meer“), der selbst in Marseille geboren wurde und seit jeher mit kritisch liebevollem Blick die Entwicklung seiner Heimatstadt verfolgt. In „Das Fest geht weiter!“ hat es der bekennende Sozialist geschafft, praktisch alle seine Lieblingsthemen in einem Film unterzubringen: seine Sympathie für die Schwächsten der Gesellschaft, die Liebe zu Marseille und zu Armenien, dem Land seiner Ahnen, sowie seine Vorliebe für soziale Themen, für starke Frauenfiguren und für bestimmte Darsteller*innen, mit denen er immer wieder – so auch hier – zusammenarbeitet.
Im Mittelpunkt stehen zwei Frauen: Rosa (Ariane Ascaride) und Alice (Lola Naymark). Rosa ist schon lange Witwe, hat ganz allein zwei Söhne großgezogen und steht am Ende ihres Berufslebens als Krankenschwester, was sie aber nicht davon abhält, weiterhin rund um die Uhr auf Achse zu sein und sich um alle und alles zu kümmern. Rosas Familie ist eine fröhliche Runde von temperamentvollen Hardcore-Sozialisten, die ihre Heimatstadt Marseille ebenso sehr lieben wie den legendären Ursprung der Stadt im heutigen Armenien. Alice, die Freundin von Rosas Sohn Sarkis (Robinson Stévenin), wird von ihnen mit offenen Armen aufgenommen. Sie ist Schauspielerin und arbeitet zurzeit in einem Sozialprojekt mit, wo sie Events gestaltet, die sich um den Jahrestag der Katastrophe in der Rue d’Aubagne drehen.
In gewisser Weise sind sich Rosa und Alice ziemlich ähnlich: Ihr soziales Engagement verbindet sie, aber auch ihre Neigung zur Hyperaktivität. Der größte Unterschied zwischen ihnen ist, dass Alice verliebt ist und Rosa gar nicht mehr weiß, wie das geht. Das ändert sich abrupt, als sie Alices Vater Henri (Jean-Pierre Darroussin) kennenlernt. Dieser hat gerade seine Buchhandlung verkauft und möchte den Ruhestand genießen. Henri ist ein freundlicher, älterer Herr, literarisch gebildet und mit Sinn für die schönen Dinge des Lebens, kurz: ein Romantiker. Rosa und Henri werden ein Paar, und zum ersten Mal in ihrem Leben gerät Rosa in Versuchung, mehr an sich selbst als an andere zu denken. Das ist aber gar nicht so einfach, denn Rosa kandidiert gerade für die Kommunalwahlen…
Rosa und Alice verfolgen hehre Ziele: Sie setzen sich leidenschaftlich für die Ärmsten und Schwächsten ein und sind bereit, dafür ihr Privatleben zu opfern. Und nun müssen beide Frauen entscheiden, wie wichtig ihnen das soziale Engagement ist. Robert Guédiguian macht aus ihnen zwar keine glattgebügelten Heldinnen, aber er kommt dem ziemlich nahe. Die beiden sind nicht nur idealistisch bis in die Spitzen ihrer wuscheligen Haare, sondern sie werden auch einigermaßen idealisiert. Dabei verhehlt Robert Guédiguian kaum bis gar nicht, dass er hier einen astreinen Agitprop-Film vorlegt – die Älteren werden sich erinnern.
Er sieht sich in der Tradition von Dsiga Wertow, Majakowski und Brecht, aber auch von Pasolini, der nach Guédiguains Meinung mit „Große Vögel – kleine Vögel“ ebenfalls einen Agitprop-Film inszeniert hat. Guédiguains Anliegen ist es, politische Entwicklungen aufzugreifen und sie als Basis für den Blick in eine optimistische Zukunft zu nutzen. Das gelingt ihm hier recht gut, indem er die Liebesgeschichte zwischen Rosa und Henri als roten Faden nutzt und die reale Katastrophe in der Rue d’Aubagne als Spange verwendet, die den Film einleitet und beschließt.
Die Folgen der Katastrophe sind noch immer sichtbar: Guédiguian lässt die Kamera häufig über das leere Grundstück schweifen, das heute ein Erinnerungsort geworden ist. Und Rosa, ihre Familie und ihre Verbündeten aus der kommunalen Initiative helfen mit, dass weitere einsturzgefährdete Altstadthäuser geräumt werden und die Bewohner*innen Ersatzquartiere erhalten. Dieser soziale Aspekt zieht sich durch den gesamten Film. Dabei gibt es für Rosa ein Vorbild: Michèle Rubirola, die Bürgermeisterin von Marseille. Dass Ariane Ascaride („Die Schüler der Madame Anne“) diese Rolle übernehmen würde, war von Anfang an klar. Sie stammt schließlich ebenfalls aus Marseille und ist mit Robert Guédiguian verheiratet sowie eine seiner bevorzugten Schauspielerinnen, z. B. in dem Klassenkampf-Drama „Der Schnee am Kilimandscharo“.
Lola Naymark als Alice hat ebenfalls in einigen Filmen von Guédiguian mitgespielt, etwa in „Gloria Mundi – Rückkehr nach Marseille“. Beide Darstellerinnen haben gemeinsam, dass sich hinter ihrer zarten Gestalt eine ungeheure Dynamik verbirgt, wobei Lola Naymark im Film etwas weniger handfest wirkt, mehr wie eine leicht durchscheinende, blasse gute Fee, während Ariane Ascaride wie ein Kobold durchs Leben turnt, stets bereit, Gutes zu tun. Der Dritte im Bunde der Guédiguian-Stammbesetzung ist Jean-Pierre Darroussin, zuletzt im Kino mit „Die Gleichung ihres Lebens“. Er spielt mit goldigem Charme den zurückhaltenden Schwerintellektuellen Henri, dem unerwartet die Liebe begegnet. Ebenfalls eine ganz klare Hauptrolle spielt die Stadt Marseille mit ihrer überwältigenden Mischung aus urbaner Hektik und mediterraner Leichtigkeit.
Fazit: Robert Guédiguian vereint vor einem realistischen Hintergrund Elemente des Agitprop und der RomCom zu einer optimistischen Dramödie, in der er zwei starke Frauen und seine Heimatstadt Marseille porträtiert. Sehr ehrenwert und durchaus unterhaltsam.