Der Baum des Lebens steht in Marburg
Von Michael BendixIldikó Enyedi ist eine der bekannten Regisseurinnen Ungarns und hat 2017 mit der Romanze „Körper und Seele“ den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Milán Füsts historischer Roman „Die Geschichte meiner Frau“ geriet in ihren Händen 2021 allerdings zu einem recht zähen und leeren Stück Prestige-Ausstattungskino – und so konnte einen erst einmal wenig vorbereiten auf „Silent Friend“, der beim Filmfestival von Venedig in der Programmfolge des offiziellen Wettbewerbs das Schlusslicht bildete. Doch nicht erst am Ende dieser enorm reichhaltigen 145 Minuten dürfte den meisten im Saal Anwesenden klar gewesen sein, dass sie gerade den ganz großen Wurf der immerhin schon seit 36 Jahren aktiven Filmemacherin gesehen haben.
Es gibt wohl wenig, das verbindender ist als Bäume. Fast überall auf der Welt wachsen sie, und in nahezu jeder Kultur spielen sie eine symbolische Rolle, stehen für den Kreislauf des Lebens an sich, für das Streben nach Erkenntnis, für Beständigkeit ebenso wie Erneuerung. Kein Wunder, dass auch das Kino die Möglichkeit eines Sinns der menschlichen Existenz regelmäßig in den Kronen und Wurzeln der Holzgewächse sucht, von Elia Kazans „Ein Baum wächst in Brooklyn“ über Darren Aronofskys „The Fountain“ bis hin zu Terrence Malicks Opus „The Tree Of Life“. Und so ist auch mit dem „stillen Freund“ im Titel des siebten Spielfilms von Enyedi ein alter Ginkgobaum gemeint, der schon seit langer Zeit im Zentrum des alten botanischen Gartens der Philipps-Universität in Marburg steht …
… und um den herum sich drei Geschichten entspinnen, zwischen denen jeweils mehrere Dekaden und insgesamt 112 Jahre liegen. Die filmische Gegenwart bildet das nahe Vergangenheitsjahr 2020: Den Neurowissenschaftler Tony Wong (die aus „In The Mood For Love“ bekannte chinesische Schauspiel-Legende Tony Leung in ihrem ersten europäischen Film) zieht es von Hongkong nach Marburg, um dort an der Universität zu unterrichten und sein Forschungsprojekt über die Gehirnfunktion von Babys voranzubringen.
Doch dann kommt die Corona-Pandemie, alle Studierenden müssen nach Hause, und Tony bleibt mit dem seine wissenschaftlichen Aktivitäten skeptisch beäugenden, weder Englisch und erst recht kein Kantonesisch sprechenden Hausmeister Anton (Sylvester Groth) in dem altehrwürdigen, efeuumrankten Universitätsgebäude zurück. Da Kleinkinder pandemiebedingt als Forschungsobjekte nicht mehr zur Verfügung stehen, konzentriert sich sein Interesse schon bald auf den geduldig über dem Geschehen thronenden Gingko Biloba.
An dessen Fuß haben sich im Jahr 1972 auch die Biologiestudentin Gundula (Marlene Burow) und ihr Kommilitone Hannes (Enzo Brumm) kennengelernt. Aus ihrer gegenseitigen Anziehung könnte Liebe werden, doch Hannes' Unbeholfenheit verhindert, dass aus ihrer Beziehung mehr wird, bevor sie zu einer Exkursion ins Ausland aufbricht.
Während ihrer Abwesenheit soll sich Hannes um ihre Geranie kümmern, die im Fokus eines ambitionierten wissenschaftlichen Vorhabens steht: Gundula will mithilfe einer selbst gebauten technischen Konstruktion beweisen, dass auch Pflanzen eine Form von Wahrnehmung besitzen, womit sie letztlich eine Grundlage für die Arbeit von Alice (Léa Seydoux) bilden wird, die Tony in Zoomgesprächen beratend zur Seite steht.
Und dann ist da noch Grete (Luna Wedler), die im Jahr 1908 als erste weibliche Studentin überhaupt an der Universität Marburg angenommen wird. Zunächst vom männlichen Lehrpersonal klein gehalten, wird auch sie Pionierarbeit leisten, als sie im Rahmen einer Assistenzstelle entdeckt, wie sich in Pflanzen verborgene Muster mithilfe des Mediums Fotografie dokumentieren lassen.
Die drei miteinander verschlungenen Episoden grenzt Enyedi voneinander ab, indem sie jeder davon ihre ganz eigene, zeitspezifische Visualität und Haptik verleiht: Die Jetztzeit ist digital, während die 1970er-Jahre in extrem körnigen, taktilen 16mm-Bildern eingefangen sind – und der am Beginn des 20. Jahrhunderts angesiedelte historische Teil in kontrastreichem, auf 35mm-Film gedrehtem Schwarz-Weiß erstrahlt. Manchmal wird die monochrome Vergangenheit noch im selben Bild in Farbe getaucht, dann wieder scheinen Figuren förmlich durch die Zeit zu schauen, wenn der Film mit einem einzigen Gegenschnitt ein ganzes Jahrhundert überspringt.
Auf dem Papier klingt „Silent Friend“ nach überkonzipiertem, esoterischem Kitsch, schreckt Enyedi doch auch vor einer metaphysischen Ebene nicht zurück – an einer Stelle gehen Mensch und Pflanze wortwörtlich eine Verbindung ein, die Grenzen zwischen Zeit und Raum werden zur Auflösung gebracht. Umso bemerkenswerter ist letztlich das Ergebnis. Auch wenn Enyedi zwischendurch die Ouvertüre zur Wagner-Oper „Lohengrin“ anspielt – das Stück aber abbricht, bevor sie Gefahr läuft, sich an der eigenen Erhabenheit zu berauschen –, ist „Silent Friend“ entgegen seinen epischen Dimensionen ein erstaunlich zärtlicher, leichter, eigensinniger Film, ja, sogar im besten Sinne wholesome – ein regelrechtes Gegengift zur politisch, gesellschaftlich und kulturell polarisierten Gegenwart.
Enyedi lässt Menschen (und Pflanzen) über sämtliche kommunikative und sogar zeitliche Barrieren hinweg eine Form der Verständigung finden, womit „Silent Friend“ auch eine Utopie ist – doch nie setzt die Regisseurin dabei zur großen Botschaft an, sondern vertraut ihren Figuren und ihrem Publikum. Zugleich entwirft sie eine kleine Chronik wissenschaftlicher Evolution und damit des menschlichen Entdeckungsdrangs, der uns letztlich zu dem macht, was wir zumindest im besten Falle sind. Dass in allen Episoden vor allem Frauen als Wegbereiterinnen auftreten, lässt zudem eine feministische Lesart zu, die Enyedi aber ebenfalls nicht ausbuchstabiert.
Schließlich funktioniert „Silent Friend“ auch als sinnliche Erfahrung. Immer wieder nimmt er sogar die Perspektive des Baumes ein, versteckt sich hinter seinem Stamm, gleitet an den Ästen entlang oder taucht sogar ins Wurzelwerk hinab, das wohl nicht von ungefähr menschlichen und tierischen Nervensystemen ähnelt. Mit einer plumpen Humanisierung sollte man das aber nicht verwechseln – Enyedi ist nicht daran gelegen, der Natur ihr Geheimnis auszutreiben. Stattdessen erkundet die Kamera neugierig die Farben und Strukturen der Pflanzen, ebenso wie sie die Gesichter der Darsteller*innen liebt oder die winterlich verschneiten Gassen der mittelalterlichen Universitätsstadt in warmes Licht taucht.
Zu den zahlreichen Wundern von „Silent Friend“ gehört aber vor allem, dass wir in der in den 1970ern spielenden Episode um das Schicksal einer auf der Fensterbank platzierten Geranie bangen, die sich von Hannes erschrecken lässt und buchstäblich Türen öffnet. Wenn es einem Film schon gelingt, Empathie für eine Blume zu erzeugen – dann ist in ihm wohl wirklich alles möglich.
Fazit: „Silent Friend“ ist ein Film von monumentaler Dimension, trotzdem fühlt er sich leicht und selbstverständlich an. Ein Meisterwerk, das wie kaum ein anderer Film in letzter Zeit zum Kern des Menschseins vordringt.
Wir haben „Silent Friend“ beim Venedig Filmfestival 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.