Friedas Fall
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Friedas Fall

Zwischen (Un-)Recht und Gerechtigkeit

Von Björn Schneider

Die Gleichstellung ist selbst heute und in Europa längst nicht überall abschließend und zufriedenstellend vollzogen. Doch noch bis ins 20. Jahrhundert war die herrschende Ordnung für Frauen, etwa in der Schweiz, katastrophal und, man muss es so klar benennen, unmenschlich. Entrechtung, Ausbeutung und ein Dasein im Schatten des Mannes prägten in der Eidgenossenschaft den Umgang mit Frauen quer durch alle Schichten. Die Öffentlichkeit jener Zeit stellte klare Anforderungen an die Frau und bestimmte, was sie zu tun und zu lassen habe. Mädchenerziehung in den Klöstern und Arbeitsunterricht an den Schulen bereiteten sie auf ihre gesellschaftlich zugewiesenen Rollen vor. Die Schweizer Frau als pflichtbewusste, hörige Mutter, Hausfrau und Gattin. Oder, falls unfruchtbar, zur Knochenarbeit auf dem Feld oder am Fließband verdammt.

Aus heutiger Sicht gemahnt diese Zeit eher an das tiefste Mittelalter. Zwar gab es ab Mitte des 19. Jahrhunderts erste Frauenvereine, doch erst ein Aufsehen erregender Prozess im Jahr 1904 befeuert die Frauenrechtsdebatte so richtig. Das auf Michèle Minellis Roman „Die Verlorene“ basierende Drama „Friedas Fall“ handelt von dieser historischen Gerichtsverhandlung, die das Strafrechtssystem in der Schweiz stark prägte. Im Zentrum steht die bewegende Geschichte von Frieda Keller, die in einem abgelegenen Waldstück ihr fünfjähriges Kind tötete. Regisseurin und Drehbuchautorin Maria Brendle gelingt ein einfühlsam erzähltes und mitreißend inszeniertes Personen- und Zeitporträt, das von seinem herausragenden Cast profitiert.

Im Gefängnis muss Frieda Keller (Julia Buchmann) immer wieder unmenschliche Behandlungen über sich ergehen lassen. Arsenal Filmverleih
Im Gefängnis muss Frieda Keller (Julia Buchmann) immer wieder unmenschliche Behandlungen über sich ergehen lassen.

1904 wird im Wald bei St. Gallen die Leiche eines kleinen Kindes gefunden – es ist Ernstli, der Sohn von Frieda Keller (Julia Buchmann). Die 25-jährige Näherin gibt den Mord sogar zu, obwohl ihre Motive im Dunkeln bleiben. Schon bald entbrennt ein politischer und moralischer Kampf, der die Gemüter des Ortes erhitzt und in der gesamten Ostschweiz für Schlagzeilen sorgt. Auf der einen Seite will der Staatsanwalt Walter Gmür (Stefan Merki) an Frieda ein Exempel statuieren. Auf der anderen Seite steht Friedas Verteidiger Arnold Janggen (Maximilian Simonischek), der sich für die Angeklagte einsetzt und auch die gesellschaftlichen Aspekte, für die Gmür kein Interesse zeigt, berücksichtigt. Der Prozess rückt die Unterdrückung der Frau ins öffentliche Interesse…

Die "Dominanz des Mannes"

War Frieda eine eiskalte Mörderin oder Opfer der damals geltenden, frauenfeindlichen Rechtsprechung? Oder gar beides? In ihrem ersten Langfilm lotet Brendle die komplexe Frage nach Täter und Opfer in einem von Männern geschaffenen und dominierten System aus. Wobei sich die Missachtung der Frauenrechte und die Ungleichbehandlung bereits in kurzen Blicken, abfälligen Bemerkungen oder banalen Alltagssituationen zeigt. „Friedas Fall“ macht schon sehr früh klar, dass das Patriarchat und die „Dominanz des Mannes“ unerschütterlicher Teil des Werte- und Glaubenssystems vieler sind. Und dies spiegelt sich eben nicht nur im Denken wider, sondern offenbart sich allen voran in den Äußerungen und Verhaltensweisen der Menschen.

So sieht sich Frieda Gewalt und einer unmenschlichen Behandlung im Gefängnis ausgesetzt. Aber die Menschen haben ihr Urteil („Wolf im Schafspelz“, „Kindsmörderin vom Hagenbuchwald“) ohnehin bereits gefällt. Die Hintergründe der Tat? Friedas Biografie und wie es überhaupt zur Schwangerschaft kam? Es interessiert die Wenigsten. Im Verlauf des Films zeigt sich, dass dramatische Ereignisse zu Friedas Verzweiflungstat führten. Arnold Janggens akribische Nachforschungen fördern diese allmählich zu Tage. In behutsam eingestreuten, kurzen Flashbacks erhalten wir darüber hinaus Einblicke in das Leben vor Friedas Festnahme. Sie ist eine empathische, feinfühlige junge Frau, die Opfer des Systems wurde.

In den Rückblicken erfahren wir, dass es im Leben der Frieda Keller nicht immer nur Finsternis gab. Arsenal Filmverleih
In den Rückblicken erfahren wir, dass es im Leben der Frieda Keller nicht immer nur Finsternis gab.

Als traumatisierte und verschlossene, aber dennoch starke, tapfere Frida Keller glänzt Julia Buchmann. In ihrer feinfühligen Performance spiegelt sich eine emotionale Tiefe und Verletzlichkeit, die lange nachhallt. Sie macht den Schmerz ihrer Figur für das Publikum spürbar. Die übrigen Darsteller*innen füllen ihre Rollen in diesem mit authentischen, geschichtsbewussten Kulissen ausgestatteten Film ebenso souverän aus.

Max Simonischek, Sohn von „Toni Erdmann“-Hauptdarsteller Peter Simonischek, überzeugt als aufrechter Mann des Gesetzes, der aber trotzdem nicht frei von Ressentiments und abwertenden Tendenzen (Frauen gegenüber) ist. Sein Widerpart Stefan Merki ist großartig als Staatsanwalt, der beharrlich an Traditionen festhält und an die althergebrachte Gesetzgebung glaubt. Mildernde Umstände für Frieda, die sich auf das Urteil positiv auswirken könnten, zieht er gar nicht erst in Erwägung. Gmür ist ein Opportunist, der es auf eigene Vorteile abgesehen und den Karriereaufstieg fest im Blick hat.

Ein wegweisender Prozess

Dennoch gesteht Brendle auch ihm charakterliche Entwicklungen zu. Am Ende hält er einen ergreifenden, flammenden Appell, in dem er Frieda regelrecht anfleht, um ihr Leben zu kämpfen und ihre Stimme zu erheben. Es ist einer der nachhaltigsten, überraschendsten Momente im Film, der den Glauben an das Gute im Menschen nährt. Diese behutsame Annäherung an die mehrdeutigen Motive sowie ambivalenten Verhaltens- und Sichtweisen der handelnden Personen zählt zu den großen Stärken von „Friedas Fall“.

Auch Gesine Janggen, die Frau des Verteidigers, ist eine beeindruckende Person. Sie eignet sich, ebenso wie die Staatsanwalts-Gattin Erna Gmür, als zentrale Identifikationsfigur. Beide Frauen kämpfen für Friedas Rechte. Doch schließlich ist es vor allem Gesine, die das patriarchale System hinterfragt und die Ungerechtigkeiten ebenso sichtbar macht wie die bis tief in die Gesellschaft reichende, weit verbreitete Doppelmoral. Am Ende waren die Verhandlung und Friedas erlittene Qualen übrigens keineswegs umsonst: Der gesamte Fall hatte nachhaltige Auswirkungen auf das Schweizer Strafrecht. Er entfachte die Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe und sorgte dafür, dass psychische Erkrankungen und außergewöhnliche Umstände in künftigen Urteilen mehr Berücksichtigung erfuhren.

Fazit: „Friedas Fall“ schildert die wahren Vorkommnisse um die Gerichtsverhandlung der Kindsmörderin Frieda Keller, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Ostschweiz erschütterte. Diese ebenso tragische wie komplexe Geschichte hinterfragt die Stellung der Frau um die Jahrhundertwende und den Umgang mit Recht und Gerechtigkeit. Der kontrolliert erzählte, stark gespielte Mix aus Historienfilm, Gesellschaftsporträt und Gerichtsdrama beeindruckt mit der ungeschliffenen Authentizität seiner Figuren und einer unaufdringlichen, aber dennoch absichtsvollen Inszenierung.

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