22 Bahnen
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
22 Bahnen

Durch den Monsun

Von Pascal Reis

Der Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag, der Bayern-2-Publikumspreis, der Ulla-Hahn-Autorenpreis, die Ernennung zum Lieblingsbuch der Unabhängigen – das ist nur eine Auswahl der vielen Auszeichnungen, die Caroline Wahl für ihren zum Bestseller avancierten Debütroman „22 Bahnen“ entgegennehmen durfte. Man kann wohl nur erahnen, in welche emotionalen Höhen die damals 28-jährige Schriftstellerin durch diese euphorischen Reaktionen katapultiert wurde!

Aus einem solch bahnbrechenden Erfolg ergibt sich fast zwangsläufig eine Konsequenz, die schon viele Autor*innen um den Schlaf gebracht hat: Wenn ein Buch mit Preisen überhäuft wurde und eine große Leserschaft begeistert hat, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann verfilmt – was auch immer ein Stück weit bedeutet, die eigene literarische Schöpfung loszulassen. Caroline Wahl hat „22 Bahnen“ so in die Hände von Drehbuchautorin Elena Hell und Regisseurin Mia Maariel Meyer („Die Saat“) übergeben – und damit die richtige Entscheidung getroffen: Denn die Kino-Adaption des Coming-of-Age-Romans ist nicht zuletzt dank einer hervorragenden Hauptdarstellerin ziemlich gelungen!

Tilda (Luna Wedler) und ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier) sind einfach unzertrennlich. Constantin Films
Tilda (Luna Wedler) und ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier) sind einfach unzertrennlich.

An der Supermarktkasse arbeiten, Bahnen ziehen im Schwimmbad, studieren, sich gleichzeitig um ihre kleine Schwester Ida (Zoë Baier) kümmern: Tildas (Luna Wedler) Alltag ist bis ins letzte Detail durchgetaktet. Doch ihre alkoholkranke Mutter (Laura Tonke) bringt die oberflächliche Ordnung immer wieder ins Wanken. Während ihre Freund*innen der Enge der Kleinstadt längst entkommen sind, ist Tilda geblieben.

Als sich die Chance auf eine Promotionsstelle in Berlin eröffnet, steht Tilda vor einer schweren Entscheidung: Darf sie ihre Schwester allein lassen, um sich selbst eine Zukunft aufzubauen? In dieser Phase der inneren Zerrissenheit begegnet sie Viktor (Jannis Niewöhner), der einen schmerzhaften Teil ihrer Vergangenheit mit aller Härte in die Gegenwart trägt...

Zusammenrücken mit Tokio Hotel

Auch wenn der Film immer wieder Gefahr läuft, sich etwas zu selbstsicher auf offensichtliche psychologische Herleitungen zu verlassen, wenn er beispielsweise Tildas zwar nachvollziehbare, aber auch verbissene Fürsorge in Relation zur völligen Abwesenheit elterlicher Aufsicht setzt, denkt Regisseurin Meyer ihn nicht vorrangig als tristes Sozialdrama. Stattdessen ist „22 Bahnen“ von einer leisen, lebensbejahenden Sanftmut geprägt, die aus der Beziehung der Schwestern resultiert – dem unbestrittenen Herzstück der Verfilmung.

In einer besonders einprägsamen, für den Film symptomatischen Szene singen die beiden gemeinsam den Tokio-Hotel-Hit „Durch den Monsun“. Tilda beginnt, Ida stimmt zögerlich mit ein, bis sie schließlich gemeinsam auf offener Straße den pathosgefüllten Durchhalte-Popsong mit Inbrunst intonieren. Das ist alles andere als subtil – und die Symbolik des Liedtexts für die Reise der beiden Schwestern dürfte selbst in der letzten Reihe des Kinosaals ankommen. Doch genau darin liegt die Stärke des Films: Er schöpft aus dem Überdeutlichen etwas Echtes.

Über den Dächern der Kleinstadt kommen sich Tilda und Viktor (Jannis Niewöhner) näher. Constantin Film
Über den Dächern der Kleinstadt kommen sich Tilda und Viktor (Jannis Niewöhner) näher.

Das liegt an der unaufgeregten, beobachtenden Inszenierung. „22 Bahnen“ wirkt manchmal wie eine Aneinanderreihung von Momentaufnahmen und Alltagsimpressionen, die aber dramaturgisch konsequent verdichtet werden. Dabei vertraut Meyer oft auf die Kraft der Bilder: Eine einzige Einstellung, die einen mit leeren Wein- und Schnapsflaschen schwer gefüllten Jutebeutel zeigt, reicht da aus, um zu verstehen, warum Tilda eigentlich wie eine alleinerziehende Mutter funktioniert – obwohl sie in Wahrheit die ältere Schwester von Ida ist.

Vor allem aber bezieht „22 Bahnen“ seine berührende Wahrhaftigkeit aus dem aufopferungsvoll-natürlichen Spiel von Luna Wedler. Die seit „Blue My Mind“ zu den markantesten Schauspielerinnen ihrer Generation zählende Schweizerin hat in den vergangenen Jahren mit beeindruckender Beständigkeit ihren wertvollen Status innerhalb der deutschsprachigen Kinolandschaft untermauert – und löst dieses Versprechen nun auch in „22 Bahnen“ konsequent ein.

Tilda muss sich entscheiden, ob sie ihr Leben endlich nach eigenen Vorstellungen gestalten möchte. Constantin Film
Tilda muss sich entscheiden, ob sie ihr Leben endlich nach eigenen Vorstellungen gestalten möchte.

Wedler deckt mit kraftvoller Körperlichkeit eine eindrucksvolle Bandbreite auf der emotionalen Klaviatur ab – von impulsiver Fragilität bis zu abgeklärt-brutaler Direktheit. All die Verletzungen, die Enttäuschung, die aufgestaute Wut, die sie in ihrem Spiel mitträgt, entladen sich in einer Szene von denkwürdiger Intensität, wenn Tilda ihrer Mutter (ebenfalls hervorragend: Laura Tonke) mit schneidender Härte entgegenschleudert: „Du hast noch nie Kinder großgezogen, du hast sie nur bekommen.“

Dagegen fällt die Performance der 11-jährigen Zoë Baier oftmals ziemlich ab. Die Altklugheit ihrer Ida mag aufgrund der Lebensumstände verständlich sein, in ihren Auftritt schwingt aber doch fast kontinuierlich das Rascheln der Drehbuchseiten mit. Auch Jannis Niewöhners Viktor bleibt ungreifbar und scheint in seiner stoischen Reserviertheit eher einem Young-Adult-Format aus dem Streaming-Sektor entnommen – so stereotyp wird der ebenfalls vom Leben gezeichnete, aber beschützende Einzelgänger hier in Szene gesetzt.

Fazit: Der Themenkatalog um Schuld, Verantwortung und Selbstbestimmung mag nach abgetretener Drama-Kost klingen. Durch die grandiose Luna Wedler und die stimmungsvolle, aufmerksame Regie erreicht die Verfilmung von Caroline Wahls Bestseller aber eine berührende Intensität. Und einen Tokio-Hotel-Ohrwurm gibt’s noch obendrauf!

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