Ein Film wie ein ausdauerndes Grundlinienduell
Von Gaby SikorskiTennis als nicht nur physische, sondern vor allem auch psychische Herausforderung wurde zuletzt groß angelegt „Challengers – Rivalen“ thematisiert: Das orgiastische Drama, inszeniert von einem wie immer höchst kreativen Luca Guadagnino, erwies sich als visuell stark aufgepeppte Dreiecksgeschichte zwischen drei sexy Tennisprofis – mit einer hinreißenden Zendaya als Trainerin und ihren beiden Ex- oder Immer-noch-Gefährten Josh O'Connor und Mike Faist, die ihr wie zwei treue Hündchen hinterherschlappen, während sie ganz cool die Fäden.
Deutlich weniger spektakulär, sondern der Thematik angemessen eher zurückgenommenen, beinahe diskreten präsentiert sich nun das Kinodebüt des belgischen Regisseurs Leonardo van Dijl. „Julie bleibt still“ hat eine Atmosphäre, die zeitweilig an einen Thriller erinnert, aber auch mit einem Hauch von Poesie überzogen ist.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Julie (Tessa Van den Broeck), ein brachiales Tennistalent mit einer vermutlich großen Zukunft als Profispielerin. Sie trainiert an der belgischen Tennisakademie und erfährt zunächst ganz nebenbei, dass ihr Trainer Jeremy (Laurent Caron) suspendiert wurde. Es scheint, als könnte es einen Zusammenhang mit dem Selbstmord einer anderen Tennisschülerin geben. Die gesamte Schule ist aufgerufen, die Untersuchung zu unterstützen.
Alle machen mit, nur Julie hält sich zurück. Sie schweigt – und das nicht etwa aggressiv oder trotzig, sondern auf eine sehr unauffällige Weise. Und sie macht einfach weiter, zieht das Training durch und hält sich fit. Heimlich hält sie immer noch Kontakt mit Jeremy, während sie sich an den neuen Trainer Backie (Pierre Gervais) gewöhnt. Doch je mehr der Druck auf Julie steigt, sich über Jeremy zu äußern, desto mehr gerät Julies geregeltes und von höchster Disziplin geprägtes Leben aus dem Takt. Ihre Schulnoten verschlechtern sich, auch ihr Tennis leidet. Aber Julie bleibt still…
Die große Frage, die über dem Film schwebt wie ein Damoklesschwert, lautet: Was ist da eigentlich passiert? Aber interessanterweise spielt die Antwort darauf gar keine so große Rolle, auch wenn es relativ schnell relativ klar wird, dass Jeremy weiterhin Einfluss auf Julie nimmt und sie die Macht, die er über sie hat, offenbar akzeptiert. Viel wichtiger und zentral für die Aussage des Films ist: Warum schweigt Julie? Was bringt sie dazu, sich so zurückzuhalten? Kann oder will sie nicht darüber sprechen, was zwischen ihr und Jeremy vorgefallen ist? Und vor allem: Wie wird sich Julie entscheiden? Wird sie sich irgendwann doch noch äußern?
In langen Einstellungen, mit häufig starren, kontrastreichen Bildern, die viel mit Licht und Schatten arbeiten, erzählt Leonardo van Dijl seine Geschichte einer ungewöhnlichen, aber durchaus nachvollziehbaren Selbstfindung. Da ist ein junges Mädchen, noch in der Pubertät, und van Dijl zeigt ihr Gesicht, in dem sich gleichzeitig viel und wenig abspielt, oft als Schattenriss im Profil. Das junge Gesicht wirkt dabei eher leise poetisch als melodramatisch. Julies Entwicklung ist vor allem zu Beginn sehr spannend anzusehen. Letztlich ist das, was sie erlebt und wie sie damit umgeht, nicht nur die Verarbeitung eines möglichen Traumas, sondern auch ein Prozess, und zwar einer, der seine Zeit braucht. Diese Entwicklung wiederum hat viel mit Tennis als Sport und als psychische Herausforderung zu tun: das Pokerface, die eiserne Disziplin, das schnelle Umschalten von Angriff auf Verteidigung, ohne dass der Gegner dies realisiert. Julies Verhalten gleicht am ehesten einem langen Grundlinienduell, wobei diese Spielweise für das Publikum – und auch hier – manchmal deutlich weniger unterhaltsam ist als für die Spieler*innen.
Die Spannung steigert sich, je länger Julie scheinbar tatenlos bleibt. Aber so wie eine Tennisspielerin, die beim Grundlinienduell nicht untätig ist, sondern wie ein Hase hin und her läuft und nach der Lücke Ausschau hält, die sie für einen Angriffsball nutzen kann, ist auch Julie ständig beschäftigt, und zwar mit sich selbst. Dabei bleibt unklar, ob sie mit ihrem Schweigen einfach nur vermeiden möchte, etwas Falsches zu sagen, oder ob sie sich geplant und absichtsvoll zurückhält, um zunächst einmal selbst das Geschehene zu verarbeiten. Vermutlich ist es eine Mischung aus beidem, wobei es für die Intelligenz und nebenbei auch für das taktische Verständnis dieses jungen Mädchens spricht, dass sie sich dem Druck von allen Seiten nicht beugt, sondern beharrlich weiter schweigt. Dass dabei prinzipiell so wenig passiert, dass so wenig Einflüsse und Veränderungen von außen in Julies Leben eindringen, macht den Film allerdings auch spröde und verleiht ihm eine gewisse Unzugänglichkeit, die dann wiederum sehr viel mit Julie als Charakter zu tun hat.
Tessa Van den Broeck, selbst eine ausgezeichnete Tennisspielerin, spielt Julie mit einem hochprofessionellen Minimalismus, der in seiner zurückgenommenen, unsentimentalen Art etwas Herzzerreißendes hat. Julie ist dabei keine Einzelgängerin – das Mädchen kommuniziert eigentlich beinahe normal mit den Eltern und mit ihrer Trainingsgruppe, solange es nicht um Jeremy geht. Aber es kristallisiert sich eine gewisse Neigung heraus, dass Worte für sie nicht wichtig sind und immer unwichtiger werden. Das gilt auch für die Freundschaft zu ihrer Mannschaftskollegin Laure (Grace Biot), in der die schiere Präsenz immer wichtiger wird als das, was zwischen ihnen gesprochen wird. Und vielleicht ist das die Botschaft des Films: Wenn es Probleme gibt, ist es wichtiger, füreinander da zu sein, als irgendwas zu sagen.
Fazit: Julies Schweigen macht den Film vor allem zu Beginn spannend. Später nutzt sich der Eindruck leider etwas ab. Der Kontrast zwischen den nahezu dokumentarisch gefilmten Trainingseinheiten mit ihrer sehr eigenen, kraftvollen Dynamik und Julies genereller Zurückhaltung außerhalb des Tennisplatzes verstärkt zwar zusätzlich den Eindruck, unter welcher emotionalen Belastung die junge Athletin steht, wird aber ebenso wie der sehr spezielle, pointiert eingesetzte Soundtrack von Caroline Shaw irgendwann vom Stilmittel zum Selbstzweck. Dennoch bleibt der Film beeindruckend – als Statement einer Selbstfindung und als eine ganz besondere filmische Auseinandersetzung mit dem Thema Macht und Machtmissbrauch, nicht nur im Sport.