700 (!) Stunden Filmmaterial, drei Jahre Drehzeit: Dieses skandlöse Wahnsinnsprojekt ist absolut einzigartig in der Kinogeschichte!
Patrick Fey
Patrick Fey
-Freier Autor
Patrick Fey ist freier Autor und in dieser Funktion unter anderem auch als Filmkritiker für FILMSTARTS.de tätig.

Mittlerweile dürfte es bei vielen in Vergessenheit geraten sein, aber just bevor die COVID19-Pandemie die Welt lahmlegte, wurde eines der faszinierendsten und verstörendsten Filmprojekte der Filmgeschichte auf der Berlinale vorgestellt.

Dass das Kino an Bedeutung verliert, ist eine Sorge, die fast so alt ist wie das Medium selbst. Besonders die kleinen wie auch die großen Filmfestivals versuchen deshalb Jahr für Jahr alles Mögliche, um Aufmerksamkeit auf sich und ihre Filme zu lenken. Bisweilen warten sie dafür auch mit dem einen oder anderen Skandal auf, der mal mehr und mal weniger berechtigt scheint.

Im Fall des DAU-Projekts, das 2020 auf der Berlinale präsentiert wurde, gibt es wenig Spielraum für Rechtfertigung. Doch dazu gleich mehr. Wird dieser Tage bei Filmen allzu oft von „Projekten“ gesprochen, ist „DAU“ dieser Bezeichnung wahrlich würdig. Wie man auch darauf schauen mag, es lässt sich in der näheren Vergangenheit – womöglich sogar in der gesamten Filmgeschichte – nichts Vergleichbares finden.

Wo sonst wurde jemals ein ganzer Gebäude-Komplex gebaut, in dem Hunderte Kompars*innen eingesetzt wurden, ein Ort, an dem jede*r der Beteiligten sich im Vorhinein dazu bereiterklären musste, mindestens für den Zeitraum ihrer Drehzeit am Schauplatz zu wohnen – und die permanente Überwachung der eigenen Person in Kauf zu nehmen? Wo sonst wurden Tiere nur für den Zweck des Filmdrehs qualvoll getötet, wurden Gefängnis-Insass*innen als Darsteller*innen angemietet, wurden echte Nazis ans Set geholt, um Nazis zu „spielen“? Je länger man diese Aufzählung weiterführt, desto klarer wird einem, dass Einzigartigkeit nicht per se etwas Positives ist...

DAU: Ein Wahnsinnsprojekt zwischen Kunst und Totalitarismus-Simulation

Doch bevor wir uns ans Eingemachte wagen, sollten wir noch einmal rekapitulieren: Was genau hat es nun mit dem DAU-Projekt auf sich? Mitte der 2000er Jahre wollte der Filmemacher Ilya Khrzhanovsky, der sich zuvor mit seinem Film „4“ auf internationalen Festivals einen Namen gemacht hatte, ein Biopic über den russischen Physiker Lev Davidovich Landau – Spitzname Dau – machen, der Mitte des 20. Jahrhundert für seine Arbeit in der Quantenmechanik einen Nobelpreis erhielt, privat allerdings, sehr zum Unbehagen seiner Frau, der freien Liebe frönte.

Als Khrzhanovsky das Projekt über den Kopf zu wachsen drohte und er in Zahlungsnot gegenüber seinen Geldgeber*innen geriet, traf er auf den Oligarchen Sergei Adoniev, der ihm, Fan des Films „4“, kurzerhand und ohne Fallstricke einen Blanko-Scheck von 25 Millionen Euro ausstellte. Khrzhanovsky begann nun damit, in wahnwitzigen Sphären zu denken und verlegte das Projekt nach Kharkiv in die Ukraine, wo ihm günstigere Arbeitsbedingungen und weniger staatliche Kontrolle zupass kamen. Dort wurde ein Set errichtet, das ein von Landau geführtes Physikinstitut darstellen sollte und gleichermaßen symbolisch für die Stalin-Ära als Ganzes steht. Bis 2011 lebten mehrere hundert Schauspieler*innen als Teil dieses Reenactments überdimensionierten Ausmaßes nahezu durchgängig vor Ort.

Im stadiongroßen „Moskauer Physikalischen Institut“, in dem sich während des Drehs neben Wohnungen auch Cafés, Labore, Schweineställe und ein Redaktionsraum für die Institutszeitung befanden, lebten gleichzeitig nationale wie internationale Größen aus Kunst und Wissenschaft – unter ihnen auch ein Nobelpreisträger – die in die Rollen ihrer historischen Vorbilder schlüpften. Insbesondere aber Teile der russischen High Society gingen ein und aus.

Der Clou: Sie alle mussten bei Eintritt in das weitgehend geschlossene System ihre Kleidung eintauschen (inklusive Unterwäsche und Brillenmodelle), ihre Handys abgeben, sich gegebenenfalls Frisuren gemäß der sowjetischen Mode der 1950er-Jahre schneiden bzw. zurechtmachen lassen. Selbst auf die Sprache wurde eingewirkt, moderne Wörter, Konzepte und Themen wurden streng gemieden. Als einzig gültige Währung an diesem Institut diente der sowjetische Rubel.

700 Stunden Material – auf 35-Millimeter–Film!

Eingefangen wurde all dies von Jürgen Jürges, dem Kameramann, der in seiner langen Karriere bereits mit Regie-Größen wie Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders oder Michael Haneke zusammengearbeitet hatte. Ganze 700 Stunden Filmmaterial – gedreht auf teurem 35mm-Film (was etwa einer Million Meter Film entspricht!) – soll dieser über mehrere Jahre hinweg aufgenommen haben, während Regisseur Ilya Khrzhanovskiy laut eigener Aussage während des Drehs nie selbst am Set war, jedoch in einer Art Kommando-Zentrale über das Projekt wachte. Unter der Andeutung, es seien Überall im Institut Überwachungskameras versteckt (wovon Khrzhanovskiy nach eigener Aussage allerdings keinen Gebrauch machte), sollte so die Atmosphäre eines totalitären Staates erzeugt werden, um die psychologischen und sozialen Auswirkungen des Lebens in der Sowjetunion zu erforschen.

Als das Set dann 2011 abgerissen — man spräche besser von abgebrannt — wurde, machte man auch dies zum Thema des Projekts, zum symbolischen Niedergang der sowjetischen Supermacht. Zu sehen ist dies in „Dau. Degeneration“, einem der mehr als ein Dutzend Filme, die auf diese Weise entstanden. Anfangs hielt man sich noch an ein Drehbuch, verfasst vom gefeierten postmodernen Autor Vladimir Sorokin, doch später verließ man sich nahezu ausschließlich auf Improvisation.

Gewalt, Sex und ideologische Verirrungen: Die Extremitäten der DAU-Filme

Von den zahlreichen Filmen, die das DAU-Projekt zutage förderten, ist „DAU. Natasha“ wohl jenes, das die meiste mediale Aufmerksamkeit erhielt — schlicht aus dem Grund, dass er in den Wettbewerb der Berlinale 2020 eingeladen wurde. Zu sehen sind darin unter anderem explizite Gewalt, Demütigungen und unsimulierter Sex — zum Zeitpunkt der Filmpremiere wurde sich vielerorts empört über eine Szene, in der eine Frau während einer schier unerträglichen Verhörszene dazu gezwungen wurde, sich vaginal eine Glasflasche einzuführen.

Hinzu kommen die echten Neo-Nazis, die in „Degeneration“ auftreten und rassistische und homophobe Ansichten äußern sowie jene Menschen mit einem Hintergrund im Staatsterror, wie etwa der ehemalige KGB-Offizier Vladimir Azhippo, der im Projekt eine zentrale Rolle spielte. Es ist wohl nicht zu viel gesagt, wenn man allemal festhält, dass die vermeintliche Authentizität hier nur zu einem übergroßen Preis kommt.

Ein exklusiver Themenpark für Oligarchen?

In ihrem lesenswerten Artikel in der New Left Review beschreibt Sophie Pinkham das für das DAU-Projekt kreierte Institut als eine Art „exklusiven Themenpark“, eine „Geisterbahn für die Reichen und Gutvernetzten“. Besucher aus der Welt der Wirtschaft und Kunst konnten hier eine kommunistische „Erfahrung“ machen, wissend, dass dieses Konstrukt mit dem Vermögen eines Oligarchen erbaut wurde.

2019 entwickelte sich das Projekt nur noch mehr zu einer wahrlichen Besucher*innen-Attraktion, als im Centre Pompidou in Paris eine Kunstinstallation vorgestellt wurde, unterstützt von Macrons Elysée-Palast und der damaligen Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo. Ähnliches war für Berlin geplant, indem ein Teil der Berliner Mauer wieder unter Stasi-Herrschaft aufgebaut worden wäre. Da es dahingehend aber zu keiner Einigung kam und Regisseur bzw. Projektleiter Ilya Khrzhanovskiy sich nicht mit einem Kompromiss zufrieden geben wollte, wurde das Projekt verworfen.

Hier ein kleiner Einblick in das DAU-Projekt, wie es 2019 in Paris zu erleben war.

Was bleibt?

Wer bis jetzt immer noch nicht abgeschreckt ist, kann sich die mehr als 13 Filme des DAU-Projekts auf der eigens dafür eingerichteten Website ausleihen. Denn obwohl im Rahmen der Berlinale 2020 die Rechte an einigen der Filme international verkauft wurden, wurde einer klassischen Kino-Auswertung zwangsläufig durch die COVID-19-Pandemie ein Riegel vorgeschoben. Seither scheint der Graben zwischen den Meinungen zu diesem Filmprojekt unüberbrückbar weit. Denn während einige es als bahnbrechendes Kunstwerk und tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Stalin-Totalitarismus sehen, kritisieren andere die ethischen Implikationen und die Glorifizierung totalitärer Ästhetik. Es wird sich zeigen, ob das Projekt nicht mittlerweile selbst zu einer bloßen Geschichte geworden ist, die zunehmend selbst in Vergessenheit geraten wird.

Wenn ihr wissen wollt, welcher – unbedingt sehenswerte! – Film sein Publikum mit echten Leichen und Bildern von Innereien in Scharen aus dem Kinosaal vertrieb, dann lest auch den nachfolgenden Artikel:

Krasser als jeder Horrorfilm: Echte Leichen und Innereien treiben Publikum massenweise aus dem Kinosaal
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