Ein nach wenigen Minuten wortwörtlich zurückgepfiffener Auftakt. Sich gen Kamera wendende Figuren, die mit spitzer Zunge das Gezeigte als wahr oder völlig erlogen kommentieren. Und ein die Ereignisse anhaltender Journalist, der mit atemloser, ansteckender Begeisterung einen Musik-Crashkurs gibt: Das hier ist kein staubiger Historienfilm – „Köln 75“ ist filmisch ausgelebte Passion für Aufbruchsstimmung, Zügellosigkeit und den Schneid, sich komplett in seine Interessen zu schmeißen.
Dieser ungestüme Film über eine jugendliche Rebellin und Musikliebhaberin, die mit ihrem Einsatz die Entstehung eines Rekordalbums ermöglichte, macht mit Jazz und Konzertorganisation das, was „The Big Short“ mit der Finanzkrise 2008 und „I, Tonya“ mit Eiskunstlauf gemacht hat: Er präsentiert faszinierende, wahre Ereignisse mit frechem Witz, unverblümt-subjektiver Perspektive, intensiver Detailliebe und Feingespür für dramatische Passagen. Diese Woche ist „Köln 75“ auf DVD und Blu-ray im Heimkino erschienen.
Sowohl die DVD als auch die Blu-ray enthalten als Bonus mehrere Interviews. Den Film gibt es außerdem als digital bei Amazon Prime Video* und anderen Anbietern.
Darum geht es in "Köln 75"
„The Köln Concert“, die Aufnahme eines improvisierten Solokonzerts des Pianisten Keith Jarrett, ist die meistverkaufte Veröffentlichung des US-Amerikaners, das meistverkaufte Klavier-Soloalbum und die meistverkaufte Jazz-Soloplatte der Musikgeschichte. Jazz-Fachpublikationen sprechen von einem Wendepunkt in der Jazzhistorie, das Musikmagazin Rolling Stone ernannte es zu einem der 50 besten Livealben aller Zeiten.
All das wäre ohne Vera Brandes (Mala Emde) nie geschehen: Im Köln der 1970er stößt die aufmüpfige Jugendliche ihrem spießigen Vater (Ulrich Tukur) ständig vor den Kopf und geht ihrem zurückhaltenden Bruder (Leo Meier) auf den Keks. Selbst gefeierten Musikern wäscht Vera den Kopf – wie dem Jazz-Saxofonisten Ronnie Scott, dem sie nach einem Auftritt unter anderem ins Gesicht sagt, er würde sich mit einem miesen Drummer abgeben.
Veras vorlautes Mundwerk verhilft ihr mit 16 Jahren zur Stelle von Scotts Tourmanagerin. Eine Aufgabe, der sie zwar nicht gewachsen ist, die sie aber mit feurigem Eifer verfolgt! Fortan greift sie nach den Sternen und wird zur gefragten Jazz-Promoterin. Als sich 1974 der Wind dreht und Jazz in den Staaten irrelevant wird, brummt das Genre in Deutschland – womöglich auch dank Vera. Die setzt sich als nächstes in den Kopf, den eigensinnigen Pianisten Keith Jarrett (John Magaro) für ein Konzert zu buchen. In Köln. In der Oper!
Rebellion, Jazz und eine sich "live" neu ordnende Story
Der Kniff, dass ein Film über wahre Begebenheiten durch ironische Brechungen und kecke, einordnende Kommentare durcheinandergewirbelt wird, ist bereits aus einigen Filmen bekannt. Allerdings wurde dieses Stilmittel selten so treffend eingesetzt wie in „Köln 75“, denn es durchdringt mehrere thematische Ebenen: Die vorlaute, impulsive Erzählweise passt perfekt zur rebellischen, nicht bloß hinterfragenden, sondern auch schöpferischen Jugendkultur, die dieser Film einfängt.
Zugleich destilliert Regisseur und Autor Ido Fluk durch diesen narrativen Schmiss seine Faszination für Jazz-Musik, die Gewohntes verformt, Konventionen umspielt und sich selbst neu erfindet. Somit wird „Köln 75“ konsequent zur tiefen Verneigung vor Jazzfan, Tourpromoterin, Konzertorganisatorin und Musikproduzentin Vera Brandes, die mit jugendlich-rebellischer Energie, tief verwurzelter Leidenschaft und unbändiger Schöpfungslust agiert. Die wird von der begnadeten „303“-Hauptdarstellerin Mala Emde mit ungeheuerlicher, einnehmender Energie gespielt:
Als Brandes ist Emde ein Wirbelwind des Tatendrangs, die wandelnde Essenz jugendlicher Aufmüpfigkeit und zugleich von Improvisationstalent durchzogen. Diese reale Filmheldin will ebenso spießige, herrische, einengende Dinge einreißen, wie sie ihre Passion ausleben, von ihr gefeierte Dinge und Personen hochleben lassen und ein freieres, froheres Leben fördern will – und dabei lädt sie ebenso zum verwunderten Kopfschütteln wie zum sie anfeuernden Grinsen ein.
Und bei aller Sprunghaftigkeit und fordernden Attitüde, die Emde ausstrahlt, vermag sie es dennoch mit Leichtigkeit, ihre Brandes-Interpretation glaubhaft zu bremsen und mit ungeduldig-flehendem Blick Rückschläge, Tiefpunkte und Durststrecken zu durchleiden.
Feurige Begeisterung, die überspringt
Auch die restliche Besetzung überzeugt. Etwa Jördis Triebel als Brandes' Mutter, die eine plausible Brücke zwischen konservativer Zahnarztfamilie und Achtung für Veras Revoluzzerin-Dasein schlägt. Oder Michael Chernus als Musikkritiker, der zumeist dem Klischee des schluffigen Kulturjournalisten im abgetragenen Sakko entspricht – aber sehr wohl zum sensiblen Zuhörer werden oder seine eigene Form von Brandes-Feurigkeit entwickeln kann.
Auch „Past Lives“-Nebendarsteller John Magaro gibt dem Film Charakter, indem er Keith Jarrett als rauen, wehleidigen, unzugänglichen Künstler anlegt und ihm dennoch Sympathiepunkte abzuringen versteht. So, wie Emdes Vera dem Film Zunder gibt, strahlt Magaros Jarrett eine durchlebte, von der schwindenden Achtung vor seiner Kunst frustrierte Müdigkeit aus, dass der „Köln 75“-Erzählfluss vor ihm in Ehrfurcht zu erstarren scheint.
Das ist nur konsequent! In seiner Gesamtheit ist der in überhöhtem Zeitkolorit badende Film vom wilden Geist seiner enthusiastischen Heldin durchzogen, doch hohes Tempo wird durch Kontrast zu (berechtigter) Bedächtigkeit umso deutlicher – zumal Jazz nicht dafür bekannt ist, ununterbrochen das Gaspedal durchzudrücken. Jazz-Begeisterung mag übrigens bei „Köln 75“ ein Bonus sein, jedoch keine Grundvoraussetzung:
Es ist ein Film darüber, dass Rebellion im Idealfall nicht nur abreißt, sondern auch erschafft. Darüber, wie ansteckend Passion ist und wie erfüllend eine stürmische Leidenschaft ist. Und darüber, dass man sich nicht aus der Bahn werfen lassen sollte, wenn nicht alles glatt läuft: Gerade durch notgedrungene Improvisation entsteht oft Brillantes! Über die Hektik und den Stress dahinter wird man im Rückblick schon noch lachen...
Und wenn ihr nicht erst im Rückblick, sondern sofort lachen möchtet, solltet ihr euch auf diesen Heimkino-Tipp stürzen:
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