Eine letzte Reise
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Eine letzte Reise

On The Road Again

Von Gaby Sikorski

„Alt werden ist nichts für Feiglinge“, heißt es. Aber auch wenn der Alterungsprozess – rein biologisch betrachtet – schon mit der Geburt beginnt, weshalb selbst Teenies dazu neigen, 30-Jährige bereits als alte Leute zu bezeichnen: Ab wann ist man eigentlich alt? Die meisten assoziieren damit wohl den Eintritt in den Ruhestand, so mit 65 bis 70 Jahren. Mit etwas Glück folgen noch einige oder sogar viele erlebnisreiche Jahre, bis der Gesundheitszustand zu spürbaren Einschränkungen führt. Damit umzugehen, ist nicht nur für die Betroffenen selbst eine Herausforderung, sondern oft auch für ihre Angehörigen. So auch für den schwedischen Filmemacher und Journalist Filip Hammar, dessen Vater in den letzten Jahren stark abgebaut hat.

Der einst so lebenslustige Lars verbringt seinen Ruhestand – zum Leidwesen seiner sehr aktiven Frau Tiina – fast ausschließlich in seinem geliebten Ohrensessel. Der Ex-Lehrer kann zwar nicht mehr gut sehen und ist schlecht zu Fuß, aber medizinisch betrachtet gibt es eigentlich keine schwerwiegenden Probleme. Mit Sorge beobachtet Filip deshalb, wie sein Vater immer apathischer wird und schließlich in eine Depression rutscht. Alte Super-8-Filme und Tonaufzeichnungen zeigen ein ganz anderes Bild – einen fröhlichen, lebhaften Mann voller Tatendrang: Lars wollte seinen Ruhestand genießen, viel mit Tiina unternehmen, vielleicht sogar nach Frankreich ziehen, ins Land seiner Träume. Aber jetzt? „Das sollten unsere goldenen Jahre sein“, sagt Tiina. „Aber er sitzt nur herum.“

Nur echt in Quietsch-Orange

Für den Sohn ist die Sache klar: Da hilft nur Luftveränderung. Also plant er mithilfe seines besten Freundes und Co-Regisseurs Fredrik Wikingsson einen Frankreich-Urlaub für Lars – so wie früher, als die ganze Familie im Sommer mit dem Auto von Schweden ans Mittelmeer fuhr, genauer gesagt nach Beaulieu sur Mer an der Côte d’Azur. Und weil Lars damals einen R4 hatte, muss wieder einer her, im selben Quietsch-Orange und selbstverständlich mit der typischen Pistolenschaltung. Kaum geht’s los, wird das Trio aufgehalten: Lars stürzt und muss ins Krankenhaus.

Glücklicherweise ist die Verletzung nicht schwerwiegend, woraufhin Filip und Fredrik beschließen, vorauszufahren. Lars soll an der französischen Grenze dazustoßen. So geschieht es, und nun beginnt die Tour erst richtig – eine Reise, die für Lars mindestens genauso wichtig und schön werden wird wie für Filip, und auf der sich beide noch einmal und ganz anders kennen und lieben lernen werden. Und das Beste: Sie haben es in dem immer wieder zu Tränen rührenden Kino-Dokumentarfilm „Eine letzte Reise“ festgehalten.

Im quietschbunt-orangenen R4 kommt bei Lars doch noch wieder Lebensfreude auf. Universal Pictures
Im quietschbunt-orangenen R4 kommt bei Lars doch noch wieder Lebensfreude auf.

Zu Beginn scheinen sich Lars und Filip zwar gut zu verstehen, aber sie haben keine sehr enge Bindung. Das ändert sich, je länger sie unterwegs sind. Sie kommen einander näher, ihr Verhältnis wird intimer, schon allein, weil Filip seinem Vater bei vielen alltäglichen Verrichtungen zur Hand gehen muss. Lars braucht Unterstützung beim Duschen und beim Ins-Bett-Gehen, manchmal auch beim Essen und Trinken. Tatsächlich geht es Lars schnell besser, eigentlich schon, sobald er wieder im R4 sitzt. Filip lässt ihn sogar ans Steuer, allerdings bei ausgeschaltetem Motor. „Er ist fast blind“, sagt Filip ganz nebenbei zu Fredrik, während die beiden Kumpels das Auto die kurze Strecke – etwa 10 Meter – nach Frankreich hineinschieben. Das hat etwas Rührendes und etwas sehr, sehr Liebenswertes, und diese Stimmung zieht sich durch den gesamten Film.

Rein technisch ist es zwar ein Dokumentarfilm, doch auf eine sehr sympathische und unaufdringliche Weise entzieht sich der Film den üblichen Kategorisierungen. Einerseits gehört er zum Genre des persönlichen Dokumentarfilms, so wie bei David Sieveking, der unter anderem einen Film über seine demente Mutter gedreht hat, in den er sich selbst sehr stark mit einbrachte („Vergiss mein nicht“). Aber hier geht es eigentlich nicht um Filip – über sein Privatleben ist überhaupt nichts zu erfahren. Der Fokus liegt ganz auf Lars und auf dem Verhältnis von Vater und Sohn. Eher unbeabsichtigt wird Filip zur zweiten Hauptfigur, durch seine liebenswerte Art, dem Vater zu begegnen, durch seine Fehler, die er selbst einsieht, und durch die Veränderungen, die er durchmacht.

Französische Chansons und Rumpumpel-Walzer

Fredrik hingegen wirkt im Film manchmal wie ein Fremdkörper. Das ist vielleicht die einzige kleine Schwäche des Films, denn Fredriks eigentliche Funktion bleibt vage. Er ist eine Art unauffälliges Helferlein, immer da, wenn man ihn braucht, auch mal zum Quatschen, denn das Leben mit Lars ist für Filip eine echte Herausforderung. Er hatte offenbar nicht damit gerechnet, dass sein Vater so viel Unterstützung braucht.

Auffällig ist der Umgang mit einigen offenkundig inszenierten Szenen: Dabei wird die Tatsache, dass hier ein Film gedreht wird, gar nicht thematisiert, also auch nicht, dass es ein kleines Team gibt, das die Filmemacher begleitet. Durch den Blick von außen erhalten die Aufnahmen manchmal einen beinahe fiktionalen Charakter. Und das ist natürlich Absicht, ebenso wie die Wirkung der Musik in einer exquisit auf die Handlung abgestimmten Melange: Melancholische französische Chansons treffen auf skandinavisch angehauchte Rumpumpel-Walzer – das macht gute Laune und funktioniert ganz prima.

Vater und Sohn kommen sich auf der Reise näher, als vermutlich sie selbst es sich je vorgestellt hätten. Universal Pictures
Vater und Sohn kommen sich auf der Reise näher, als vermutlich sie selbst es sich je vorgestellt hätten.

Gegen die Bilder der Reise werden die alten Super-8-Filme gestellt, die den jungen Lars und seine Familie zeigen – das sorgt für Abwechslung und ein wenig Nostalgie. Die größten Highlights aber sind die stimmungsaufhellenden Sensationen, die sich Lars für seinen Vater ausgedacht hat. Dazu gehört eine von Filip minutiös geplante Spielszene vor einem Straßencafé, die Lars gemeinsam mit dem scheinbar unbeteiligten Filip beobachtet – mit einem eigens dafür engagierten Cast, der den geballten Charme Frankreichs verkörpern soll, während Fredrik im Hintergrund Regie führt.

Wie ein kleiner Junge spielt Filip seinem Vater hier einen unglaublich liebenswerten Streich. Der eigentliche Höhepunkt ist am Schluss eine Filmvorführung am Strand: Filip präsentiert seinem Vater ein Zusammenschnitt, in dem viele ehemalige Schülerinnen und Schüler über ihn sprechen – und die Reaktionen von Lars und Filips sind dabei mindestens ebenso rührend wie die liebevollen Erinnerungen im Video.

Fazit: Der liebenswerte, schwungvolle Dokumentarfilm über einen ungewöhnlichen Vater-Sohn-Road Trip wurde als schwedischer Beitrag für die 97. Oscar-Verleihung ausgewählt. Kein Wunder, denn „Eine letzte Reise“ verfügt über so viel Witz, Charme und Herzenswärme, dass man nicht nur die Protagonisten ins Herz schließt, sondern auch das ganze Drumherum, inklusive R4. Dazu kommt die durchgängig liebenswürdige Atmosphäre, die sich im Laufe des Films immer mehr steigert, von den wunderschönen Bildern aus Frankreich ganz zu schweigen. Nicht nur Vater und Sohn profitieren von dieser Reise, sondern auch das ganze glückliche Publikum.

Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
Das könnte dich auch interessieren