Sehnsucht in Sangerhausen
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,0
solide
Sehnsucht in Sangerhausen

Sachsen-anhaltische Wahlverwandtschaften

Von Thorsten Hanisch

Der Ton ist schnell gesetzt: Bereits im Vorspann besingt Schlager-Chanteuse Bianca Graf in „Die schönsten Rosen blüh’n in Sangerhausen“ die sachsen-anhaltische Kleinstadt in Grenznähe zu Thüringen. Die abrupt einsetzende Handlung lässt den Schlager-Kitsch direkt auf mausgraue Realität prallen. Trotzdem rollte „Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes“-Regisseur Julian Radlmaier kein Sozialdrama im eigentlichen Sinne auf. Probleme wie Arbeitslosigkeit und vor allem Rassismus schwappen zwar immer mal wieder in Form von Radiostimmen oder bösartigen Bemerkungen von Einwohner*innen in die Handlung, aber erzählt wird vor allem davon, welche nahezu utopisch anmutenden Wunder passieren können …

… wenn man nur aufeinander zugeht und miteinander redet: So findet im Laufe von „Sehnsucht in Sangerhausen“, der seine Weltpremiere im Wettbewerb des Filmfests in Locarno gefeiert hat, ein Grüppchen Außenseiter*innen – nämlich eine ostdeutsche Niedriglohnarbeiterin mit gebrochenen Herzen, eine iranische Travel-Influenzerin mit gebrochenen Arm und ein Koreaner mit Halskrause plus Frechdachs-Sohn – zusammen. Am Ende nimmt man von diesem wild zusammengewürfelten Haufen echt ungern Abschied – und das, obwohl Radlmeiers Film überfrachtet wirkt und zunächst nur mühsam in die Gänge kommt.

Im klimatisierten Reisebus von Sung-Nam (Kyung-Taek Lie) finden die Protagonist*innen auf engstem Raum zusammen. Grandfilm
Im klimatisierten Reisebus von Sung-Nam (Kyung-Taek Lie) finden die Protagonist*innen auf engstem Raum zusammen.

Erzählt wird – in vier Kapitel unterteilt – von Ursula (Clara Schwinning), die morgens in einem Möbelladen putzt und danach in einem Café oft sehr unangenehme Tourist*innen bedient; von Neda (Maral Keshavarz), einer iranischen Asylantin, die versucht, sich als Travel-Influenzerin mit Thema Billigreiseziele in Deutschland durchzuschlagen. Und dann gibt es noch eine dritte Figur, die in der offiziellen Inhaltsangabe aus Locarno seltsamerweise noch unterschlagen wird, obwohl sie durchaus viel Raum einnimmt:

Sung-Nam (Kyung-Taek Lie) ist ein älterer, koreanisch-stämmiger Mann, der einst aus der Sowjetunion geflüchtet ist, weil er nicht in den Afghanistan-Krieg wollte und nun Reisetouren in seinem klimatisierten Kleinbus anbietet. Bei ihm wohnt illegalerweise ein kleiner, süß-frecher Junge namens Buk – der Enkel der Frau, die er einst heiraten wollte. Jedenfalls kreuzen sich dank Sung-Nams Reisebus die Wege der vier, die im Verlauf der 90 Minuten von „Sehnsucht in Sangerhausen“ zu einer Art Ersatzfamilie zusammenwachsen…

Aufgeblähte Handlung

„Sehnsucht in Sangerhausen“ erzählt aber nicht nur von diesen vier Figuren, sondern widmet sich ebenso der ostdeutschen Vergangenheit. Eine kurze Episode ganz am Anfang dreht sich um das Hausmädchen Lotte (Paula Schindler), das im 19. Jahrhundert die Exkremente des in der Nähe von Sangerhausen geborenen Dichters Novalis entsorgen muss und – genau wie ihre Kollegin Ursula viele Jahrzehnte später – von einem anderen Leben träumt.

Das Verhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird immer mal wieder am Rande aufgegriffen – nicht nur inhaltlich, sondern ebenso durch kleinere Mystery-Einsprengsel und wiederkehrende Symbole wie einem blauen Stein. Allerdings bleibt all das vage und trägt letztendlich nichts Wesentliches zur Geschichte bei, sondern sorgt eher dafür, dass sich Radlmaiers Film unnötig aufgebläht anfühlt und zudem schwerer anläuft als ohnehin schon.

Mit Henriette Confurius („Das Mädchen und die Spinne“) ist auch eine der aktuell angesagtesten deutschen Schauspielerinnen mit in „Sehnsucht in Sangerhausen“ dabei. Grandfilm
Mit Henriette Confurius („Das Mädchen und die Spinne“) ist auch eine der aktuell angesagtesten deutschen Schauspielerinnen mit in „Sehnsucht in Sangerhausen“ dabei.

Leider entwickelt das Ganze nämlich auch nach der Novalis-Episode erstmal keinen so rechten Zug, sondern erzählt erstmal, wie Ursula zu (Henriette Confurius), deren Band im Ort zu Gast ist, zarte Bande knüpft, bevor die Musikerin ohne weitere Nachricht plötzlich abreist. Eine nicht gänzlich uninteressante, sich aber mindestens etwas arg ausgedehnt anfühlende Episode, die vor allem dazu dient, das ohnehin bereits deutlich-desolate Gefühlsleben der jungen Frau und ihre Sehnsucht nach Ausbruch auszuformulieren.

Wenn dann Neda auf den Plan tritt und auf Sung-Nam sowie Ursula trifft, findet der Film allmählich zu sich und wird immer mehr – ohne Töne der ernsthafteren Art gänzlich beiseitezuschieben – zu einer trockenhumorigen Komödie, mit deren Protagonist*innen-Quartett man gerne etwas mehr Zeit verbracht hätte. Doch kaum findet das zusammen, nähert sich „Sehnsucht in Sangerhausen“ auch schon wieder allmählich seinem Ende.

Fazit: Gut gespielter Mix aus Sozialdrama und Komödie mit einem gewissen Mystery-Einschlag, der mit beeindruckenden, wie aus der Zeit gefallenen wirkenden 16mm-Bildern begeistert, die dem Ganzen einen zwischen Nostalgie und Melancholie oszillierenden Anstrich geben. Julian Radlmaier („Blutsauger“) will inhaltlich aber zu viel und findet keinen rechten Rhythmus, ein klarerer Fokus auf die vier wunderbaren Hauptfiguren wäre deshalb womöglich wünschenswert gewesen.

Wir haben „Sehnsucht in Sangerhausen“ im Rahmen des Locarno Filmfestivals 2025 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs seine Weltpremiere gefeiert hat.

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