Landmarks
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
Landmarks

Wem gehört das Land?

Von Janick Nolting

Lucrecia Martel, eine der bedeutendsten Regisseurinnen Argentiniens, hat sich an einem regelrechten Mammutprojekt versucht. Nachdem sie in den letzten Jahren unter anderem den Oscar-Beitrag „Zama” (2017) verantwortet hat, der sich mit dem Kolonialismus auseinandersetzte, kehrt Martel nun zu diesem Thema zurück. Jahrelang hat die Regisseurin an ihrem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm gewerkelt. „Landmarks” (im Original: „Nuestra Tierra”), lautet sein prägnanter Titel, für den Martel eine Fülle an Material gefiltert und bearbeitet hat.

Die Argentinierin hat sich dabei ein reales Verbrechen aus der Provinz Tucumán vorgenommen, dessen Aufarbeitung und Dokumentation plötzlich ein riesiges Geflecht der strukturellen Gewalt offenlegt, das sich quer durch die Geschichte zieht. „Landmarks” erscheint in seinen Bildern auf den ersten Blick manchmal ganz simpel gestrickt, platzt aber inhaltlich fast aus allen Nähten. Ausgangspunkt ist der Mord an dem Menschenrechtler Javier Chocobar im Jahr 2009. Chocobar gehörte zum indigenen Volk in der Chuschugasta-Siedlung. Fast zehn Jahre vergingen, ehe die Täter zu einer Haftstrafe verurteilt wurden. Schon 2010 hat Lucrecia Martel laut Interviewaussagen begonnen, den Fall filmisch zu begleiten. Aus dem Material ist nun ein rund zweistündiger Dokumentarfilm entstanden, der einen Eindruck der Dimensionen (post)kolonialer Verheerungen in Argentinien und ganz Lateinamerika vermitteln will.

Mehrere Filme in einem

Man kann dieses Projekt aus einem Gefühl der Überforderung begreifen. Zumindest nach dem ersten Sehen. „Landmarks” ist ein dicht erzähltes Stück Zeitgeschichte, das Porträt einer Region, das Porträt einer Bevölkerungsgruppe, sowohl ein Stück Kriminal- als auch ein Stück Landesgeschichte. Ein Interview- ein Gerichtsfilm und eine Landschaftsstudie zugleich. Und Martel wirft ihr Publikum unvermittelt hinein in diese verzwickte Konstellation und all ihre filmischen Schichten, die sie mal auf beeindruckende, mal aber auch frustrierend ausschweifende und bruchstückhafte Weise montiert.

„Landmarks” macht damit schnell deutlich, dass er sich dem Publikum nicht anbiedern will. Er will nicht gefallen, nicht bekömmlich sein, sondern konfrontieren und aufrütteln. Es geht hier nicht darum, beim Urschleim anzufangen und Menschen im Sinne eines betreuten Sehens an die Hand zu nehmen. Martel provoziert das Zuhören, das eigene Entdecken und letztlich das Nachforschen. Inwiefern das dann im Publikum individuell zündet, sei dahingestellt. Martel steckt die wichtigsten Hintergründe und Eckpunkte des Kriminalfalls ab, um dann verschiedenen Menschen zuzuhören, Dokumente zu durchforsten und filmisch in ein Assoziieren zu geraten.

Dokumente der Gewalt

Es ist nicht immer leicht, dem Ganzen zu folgen. Nicht zuletzt, weil dieser Film, wie eben angedeutet, auf eine Exposition im klassischen Sinne verzichtet. Martels Protagonist*innen treten weniger als greifbare Charaktere denn als Repräsentant*innen und Teile eines Gesamtbildes auf, bei dem man am Schluss immer noch am Anfang eines gigantischen Aufarbeitungsprozesses steht. Aus dem Mord an Chocobar erwachsen zahlreiche Beobachtungen und Verwerfungen, die Kolonialismus, Ausbeutung, Vertreibung und Landraub zu verantworten haben. Es geht darum, wie ganze Menschengruppen mundtot gemacht, wie ihre Erfahrungen ausgelöscht und totgeschwiegen werden. Martel erzählt vom Kampf indigener Völker um Land und Stimme. Und ein Streit um ein Stück Land geht auch dem Mord an Chocobar voraus.

Martel zeigt früh im Film eine Videoaufnahme des Verbrechens. Schüsse fallen, es wird geschrien und gerufen. Die Kamera fällt zu Boden, oder rollt sie einen Hang hinab? Man kann das in den verpixelten Bildern schwer erkennen. Und Martel zeigt diese Pixel so nah und groß, dass hier eine weitere Ebene eröffnet wird, die nicht zuletzt über die Medien der Fotografie und des Films nachdenkt. „Landmarks” ist damit unweigerlich auch ein Meta-Film darüber, wie man sich derartigen Verbrechen und all den politischen Hintergründen, die sich daran anschließen, überhaupt nähern kann. Wie kann die filmische Form selbst zu einem Gegennarrativ und etwa Rebellischem werden?

Immer wieder führt „Landmarks“ an den Ort der Tötung des indigenen Menschenrechtlers Javier Chocobar zurück – in Form von verpixelten Videoaufnahmen, Reenactments oder Drohnenbildern. The Match Factory
Immer wieder führt „Landmarks“ an den Ort der Tötung des indigenen Menschenrechtlers Javier Chocobar zurück – in Form von verpixelten Videoaufnahmen, Reenactments oder Drohnenbildern.

Das Rebellische ergibt sich oft noch nicht einmal aus der Art und Weise, wie Martel einzelne Menschen oder Situationen filmt, sondern eher aus ihrer ganz eigenen vertrackten Montage. Martel vernäht Aufnahmen des Ortes und der Region rings um den Tatort, überhaupt der umstrittenen Landzüge, mit Stimmen und Erfahrungen der Indigenen. Bild und Ton müssen dabei nicht immer zusammengehen. Es sind gerade die Lücken und Brüche, nach denen Martel sucht. Hier werden teilweise Traumata, Wut und Frustration in Erinnerungen und Erklärungen hörbar, während die Landschaft selbst nur Unscheinbares zu erkennen gibt.

Welche Geschichten erzählen diese Bilder also? Welche können sie überhaupt erzählen? Ein paar Pferde stapfen dort über die Wiese. Später bewegen sich Fahrzeuge mit Scheinwerfer durch das Dunkel und stoßen auf ein paar Kühe. Die Natur steht gleichgültig gegenüber des Gezänks der Menschen und dieses Gezänk scheint kein Ende zu nehmen. Schon die Texttafeln im Abspann liefern den nächsten Tiefschlag.

Spiel mit dem Kopfkino

„Landmarks” schöpft zudem aus einem üppigen Arsenal, wie Menschen Verbrechen rekonstruieren. Der Film zeigt Reenactments, Versuche, die Tat nachzustellen. Dann geht es vor Gericht, wo Martels Kamera über Schultern blickt und an Lippen hängt. Dazu spürt die Regisseurin Fotografien nach, die Menschen auf Tischen ausbreiten, um Geschichten zu erzählen, deren Wurzeln mehrere Jahrhunderte zurückreichen. „Das ist das älteste Foto”: Immer wieder führt der Film Zeigegesten von Menschen vor, und dann kommt man ins Sprechen und Nachdenken. Martel zeigt viele der Fotos im leinwandfüllenden Format. Sie gibt ihrem Publikum Zeit und Gelegenheit, diese alten Aufnahmen zu studieren und Blicke über deren Materialität schweifen zu lassen.

Manchmal bleibt man an den Störungen und Abnutzungen, den Spuren hängen. Knicke in den Bildern, Kratzer oder auch die einzelnen Farbkleckse der Kolorierungen. Insofern bekommt dieser zunächst so spröde und unübersichtlich anmutende Film eine ganz eigene mediale Sinnlichkeit. Spätestens dann, wenn das unbewegte Bild plötzlich mit Geräuschen untermalt wird, sodass es vor dem geistigen Auge lebendig zu werden scheint. Martels Film verweist auf Grenzen und Möglichkeiten des eigenen Mediums zugleich. Kino und Kopfkino gehen hier interessante Verbindungen ein.

Ein Film, der stören will

Überhaupt muss man noch einmal den Begriff der Störung betonen. Martels Film will stören. Und er will sich politisch querstellen, auch wenn das auf ganz unaufgeregte, bisweilen trockene, nüchterne Weise geschieht. Das ist engagiertes Filmemachen, das seine zentralen Botschaften und Beschwerden dann doch immer wieder ganz explizit ausstellt, aber umgekehrt auch schafft, die Dringlichkeit und andauernde Relevanz der Debatten um eine Aufteilung, das Verwehren von Räumen sowie das Ausgrenzen bis Auslöschen indigener Kulturen und Lebenswirklichkeiten zu betonen. Da geht es auch um die Frage der Vermittlung. Oder gerade: das ausbleibende Lehren und Vermitteln indigener Geschichte. Die vermeintliche Weltgeschichte, was immer das sein soll, hat angeblich Vorrang.

„Landmarks” ist keine didaktische Lehrstunde, eher ein Nachspüren, ein disparates Anordnen kleiner Schlaglichter und Auszüge. Man kann sich darüber ärgern, dass einen die Regisseurin bezüglich vieler Persönlichkeiten und spezifischer kultureller und soziopolitischer Zusammenhänge ein wenig im Dunkeln tappen lässt. Daran schließt sich nicht zuletzt die Frage an, für wen dieser Film gemacht wurde, welches Wissen man dafür voraussetzen kann oder muss. Man kann ihn aber auch schlichtweg als Anregung schätzen. Und somit gelingt die Störung: „Landmarks” beendet ein Wegschauen, und sei es auch nur für kurze Zeit. Der Film weiß selbst, dass er damit in zwei Stunden Laufzeit unweigerlich an Schranken des Vermittelbaren stoßen muss.

Eine Panne wird zum Höhepunkt

Daher passt umso besser der kurioseste Moment in dieses Werk: Dann, wenn die Kamera an einer Drohne mal wieder in den Himmel steigt, um die Landschaft zu überblicken. Plötzlich ein Knall, ein Taumeln, ein Stürzen. Ein Vogel ist gegen die Kamera geflogen. Andere Filmschaffende hätten diese Panne, wenn man es denn so nennen will, womöglich rausgeschnitten. In der neugierig experimentierenden Ästhetik von Lucrecia Martel wird dieser symbolträchtige Aufprall, diese Unterbrechung zu einem Höhepunkt.

Fazit: Lucrecia Martel blickt in „Landmarks” auf das Thema Landraub und die Traumata indigener Bevölkerungsgruppen in Argentinien und dringt, ausgehend von einem Verbrechen, in Jahrhunderte der Diskriminierung und Gewalt vor. Damit ist ihr ein beeindruckendes Spiel mit Fotografie und Film gelungen, wenngleich es ohne Vorwissen oft schwer fällt, mit all den Berichten und aufgezeigten Zusammenhängen Schritt zu halten.

Wir haben „Landmarks“ beim Filmfestival Venedig 2025 gesehen, wo er außer Konkurrenz im offiziellen Programm seine Weltpremiere gefeiert hat.

Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
Das könnte dich auch interessieren