Stand-Up als Trauma-Therapie
Von Jochen WernerTimo Jacobs ist seit mehr als einem Jahrzehnt einer der umtriebigsten deutschen Independent-Filmemacher, und erst kürzlich haben wir hier seine ziemlich durchgeknallte, lakonische Globetrotter-Komödie „Hochstapler und Ponys“ besprochen. Während diese noch auf ihren baldigen Kinostart wartet, hat Jacobs nun allerdings schon einen weiteren Film fertiggestellt – und legt im Vergleich zu den locker-lustigen „Hochstaplern“ eine denkbar krasse Kehrtwende hin. Denn auch wenn der Humor in „Tod meiner Jugend“ eine durchaus beträchtliche inhaltliche Rolle spielt, ist der Tonfall durchweg ernst, mitunter stockfinster – der Geschichte seines Protagonisten angemessen, denn Jacobs erzählt hier, auf wahren Begebenheiten beruhend, den grausamen Leidensweg des Kai Peters.
Diesen Kai Peter spielt Jacobs zunächst einmal selbst, bevor sich „Tod meiner Jugend“ dann in mehrere Zeitebenen auffächert. Gemeinsam mit seiner Frau Melanie (Nadeshda Brennicke) und dem 15-jährigen Sohn Silas (spielt sich selbst: Silas Peter) zieht er zurück in die Stadt seiner Kindheit, wo er einen Job als Hausmeister an seiner alten Schule antritt. Als Silas Kai fragt, warum es eigentlich keine Jugendfotos von ihm gibt, wirft diese vermeintlich harmlose Frage den liebevollen Vater völlig aus der Bahn. Die Abgründe der eigenen Vergangenheit tun sich zu Kais Füßen auf, und in diese wirft Timo Jacobs uns mittels ausführlicher Rückblenden hinein – gemeinsam mit Kai, der die Orte seiner schweren Kindheit wieder aufsucht und lange verdrängte, traumatische Erinnerungen nach Jahrzehnten wieder zulässt…
Dieser Erinnerungstrip beginnt in der mütterlichen Badewanne, und schon in diesen ersten, nur auf den allerersten Blick nostalgisch weichgezeichneten Bildern sieht man rasch die Spuren des schweren körperlichen Missbrauchs, den Kai (als Kind: Milo Eisenblätter) erleiden muss. Tiefschwarze Blutergüsse sprenkeln den Rücken des Achtjährigen, und die bald folgende, ängstlich verdruckste Aussage gegenüber der Frau vom Jugendamt, es gehe ihm zu Hause nicht gut, versteht man sofort in all ihrer Tragweite. Kai kommt in ein Kinderheim, in dem er mehrere Jahre leben wird – nur um dort die Fortführung des gewohnten Missbrauchs zu erfahren, durch andere Peiniger. Von den älteren Zimmergenossen brutal geprügelt, tritt nun zunächst die Andeutung, und dann die fürchterliche Gewissheit hinzu, dass Kai (als Jugendlicher: Oliver Szerkus) auf all diesen Stationen seiner Jugend auch sexuellen Missbrauch erleiden muss.
Diese Andeutung liegt zunächst bloß in den Blicken des Heimleiters Strump (Attila Borlan) versteckt, der den jungen Kai nicht aus seinen kalt-brutalen Augen lässt – auch wenn Timo Jacobs uns nicht zeigt, was hinter den verschlossenen Bürotüren geschieht und uns zunächst einmal allein lässt mit unseren unguten Vermutungen, die sich allmählich zu Gewissheiten verfestigen. Auch dass seine Mutter Jessica (Sarah Bauerett) und deren wechselnde Liebhaber den achtjährigen Kai nicht nur prügeln, sondern dass diese ihren Sohn gegen Bezahlung zur Vergewaltigung anbietet, erschließt sich erst nach und nach. So wie Kai selbst ins Dickicht der verdrängten Erinnerungen vordringt, die sein hart erkämpftes, stabiles Familienleben bedrohen, folgt Timo Jacobs ihm in ein Geflecht von Rückblenden, die sich Stück für Stück zu einem Gesamtbild zusammenpuzzeln.
Und dann gibt es da noch diesen zunächst etwas rätselhaften Nebenhandlungsstrang, in dem der erwachsene Kai, parallel zum Prozess der eigenen Vergangenheitsaufarbeitung, plötzlich unbedingt Stand-Up-Comedian werden will (seine Frau meinte, er „hätte Potenzial“). Wie ein herübergewehtes Echo aus Jacobs‘ eigenem früherem Film „Stand Up! Was bleibt, wenn alles weg ist“ mutet es manchmal an, wenn Kai immer wieder lange mit dem Comedyclub-Betreiber Manfred (Sascha Geršak) zusammensitzt und – zu seiner eigenen Überraschung – viel mehr über das Wesen der Stand-Up-Comedy sinniert als an konkreten Gags und Routinen zu feilen. Die Wahrheit sagen, die eigenen Schwächen zeigen, kurz: das Publikum dorthin mitnehmen, wo es einem selbst weh tut – das sei seine Rolle als Comedian.
Hannah Gadsby und andere erfolgreiche Vertreter*innen der kontemporären Trauma-Comedy würden wohl nicht widersprechen, selbst wenn Kais Act am Ende dann doch deutlich hemdsärmeliger daherkommt. Aber das passt hier auch viel besser – sowohl zu seinem eigenen Charakter als auch zur Inszenierung dieses gerade in einer gewissen Unbehauenheit erschütternden Films.
Denn Timo Jacobs geht es in seiner Inszenierung – in seinen Komödien ebenso wie in diesem zwar mit dem Thema der Comedy arbeitenden, aber im Kern ernsten und abgründigen Film – niemals darum, alle Ecken und Kanten abzuschleifen und eine möglichst glatte, in sich stimmige Regiearbeit abzuliefern. Stattdessen macht er Independent-Kino als Arte Povera – als eine Kunst also, die mit schlichten, bescheidenen Materialien hantiert und eine gewisse, aus der Wahl ihrer Mittel resultierende Kargheit nicht zu verschleiern versucht, sondern sie mit Stolz vor sich herträgt. Dieser Kai Peter ist, jedenfalls so wie wir ihn in Timo Jacobs‘ Spiel und Interpretation kennenlernen, ein bodenständiger und geradliniger Mann – und dennoch komplex und vielschichtig.
Das spiegelt sich in einer Inszenierung, die zwar narrativ verschachtelt ist, aber dennoch ohne viel Oberflächenpolitur auskommt. Timo Jacobs verfolgt im Grunde einen konsequenten Gegenentwurf zu jener Schule des (insbesondere deutschen Förder-)Films, die noch jeden Stoff in die Dramaturgie und die Bildsprache des öffentlich-rechtlichen Fernsehens hineinzuquetschen versteht, und das ist natürlich die einzig wahrhaftige Antwort des deutschen Indie-Kinos auf den Mangel an Produktionsmitteln: Wenn diese Mittel zu knapp sind, um „großes“ Kino zu machen, dann begnügt man sich nicht damit, fürs TV-Format zu erzählen. Sondern dann macht man ein „kleines“, unabhängiges Kino – ganz genau so, wie man es selbst will und für richtig hält.
Fazit: Nach seiner schräg-lakonischen Komödie „Hochstapler und Ponies“ überrascht Independent-Regisseur Timo Jacobs mit einem radikalen Genre- und Stimmungswechsel. „Tod meiner Jugend“ ist ein Film über Mobbing, Gewalt und sexuellen Missbrauch – beruhend auf einer wahren und erschütternden Geschichte. Jacobs erzählt das Leben des realen Kai Peter gleichzeitig komplex-aufgefächert und bodenständig. Dafür findet er eine eigene, rohe und berührende Form – und unternimmt gleichzeitig noch einen Ausflug in die künstlerische Aufarbeitung von Trauma, ausgerechnet auf der Comedy-Bühne. Ein im besten Sinne ungeschliffener, bewegender Film.