Lilo & Stitch
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
Lilo & Stitch

Herz über Hyperrealismus!

Von Björn Becher

Disney steht bei seinen Realverfilmungen immer wieder vor der Herausforderung: Wie stark soll eine Geschichte, die einst bewusst als Animation gedacht war, auch visuell in die reale Welt und eine gewisse Wahrhaftigkeit überführt werden? Dass bei „Der König der Löwen“ auf fotorealistisches Hyper-CGI gesetzt wurde und in „Die Schöne und das Biest“ das fantastisch-verwunschene Schloss möglichst greifbar sein sollte, spaltete durchaus das Publikum. Regisseur Dean Fleischer Camp („Marcel The Shell With Shoes On“) wählt für sein Remake von „Lilo & Stitch“ einen anderen Ansatz.

Das Original gehört schließlich zu jenen Klassikern, die ihren Reiz gerade auch aus einer gewissen Cartoon-Logik beziehen. Chaos, Emotion, Albernheit und Tiefe existierten Seite an Seite. Indem die Aliens auch im Live-Action-Remake sichtbar animiert bleiben und sogar mal gegen physikalische Regeln verstoßen wird, übersetzt Regisseur Fleischer Camp den Kern der Vorlage gekonnt ins Heute. Alien-Experiment Stitch darf dabei im besten Sinne fremd wirken – und das ist kein Makel. Denn nicht nur visuell begeistert das Zusammenspiel der beiden Titelfiguren. Die Freundschaft von Lilo und Stitch entwickelt in der zweiten Hälfte so viel Herz, dass man der Neuauflage verzeiht, dass der Film nicht nur etwas Anlauf braucht, sondern im Vergleich zum Original auch eine Spur zahmer ausfällt.

Darf auch im Realfilm-Remake jede Menge Chaos stiften: das außerirdische Experiment Stitch (im Original gesprochen von Chris Sanders)! Walt Disney Pictures
Darf auch im Realfilm-Remake jede Menge Chaos stiften: das außerirdische Experiment Stitch (im Original gesprochen von Chris Sanders)!

Nach dem Tod ihrer Eltern muss Nani (Sydney Agudong) für ihre sechs Jahre alte Schwester Lilo (Maia Kealoha) sorgen, was mehr schlecht als recht klappt. Sozialarbeiterin Mrs. Kekoa (Original-Nani Tia Carrere in einer Nebenrolle) droht sogar damit, die Familie auseinanderzureißen. Nur noch wenige Tage bleiben Nani, um das Zusammenleben in Ordnung zu bringen, wobei ihr die rebellische Lilo aber ganz und gar keine Hilfe ist. Zu allem Überfluss bringt das sich nichts mehr als eine Freundschaft wünschende Mädchen auch noch aus dem Tierheim ein blaues Wesen mit nach Hause, das schnell für noch mehr Wirbel sorgt.

Das bald Stitch (im englischen Original erneut von Chris Sanders gesprochen!) getaufte blaue Fellknäuel ist allerdings kein Hund, wie erst noch jeder annimmt, sondern das außerirdische Experiment 626. Das von dem verrückten Alien-Wissenschaftler Dr. Jumba Jookiba (Zach Galifianakis) als Zerstörungsmaschine erschaffene Wesen ist auf die Erde geflohen und nutzt Lilos Einsamkeit, um sich in deren vermeintlich sicherem Menschenheim zu verstecken. Doch längst wurde auch Jumba gemeinsam mit dem bislang nur theoretisch die Erde erforschenden Agenten Pleakley (Billy Magnussen) losgeschickt, um Stitch zu fangen. Damit sind sie nicht alleine. Denn CIA-Agent Cobra Bubbles (Courtney B. Vance) ist nach dem Fund eines abgestürzten Raumschiffs ebenfalls auf der Jagd...

Erst mal nur Chaos, dann viel Herz

Gerade zu Beginn setzt „Lilo & Stitch“ voll auf Regelverletzung und Rebellion. Lilo ist kein niedliches Vorzeigekind – sie schubst bei einer Hula-Vorführung direkt mal ein anderes Mädchen von der Bühne, schleicht sich in den Whirlpool des Luxushotels und trotzt jeglicher Autorität. Und Stitch, das genetisch gezüchtete Chaoswesen, ist in seinen ersten Auftritten der reine Zerstörungsfuror. Diese Doppelanarchie hat Charme, nutzt sich im Verlauf der ersten Hälfte aber etwas ab. Schließlich ähneln sich die Gags schon deutlich, wenn Stitch nicht aus seiner Haut kann und am Ende halt immer irgendwas kaputt macht. Erst nach und nach schleicht sich immer mehr Tiefe ein – und das ist dann umso wirkungsvoller.

Die Freundschaft, die sich zwischen Lilo und Stitch entwickelt, trägt den Film. Obwohl Stitch bewusst sichtbar eine CGI-Figur bleibt, ist er hervorragend in die reale Welt integriert. Hauptdarstellerin Maia Kealoha spielt exzellent mit dem fiktiven Wesen zusammen, wodurch beide zum emotionalen Zentrum des Films werden. Ohnehin ist Kealoha eine exzellente Besetzung – auch weil sie nicht das neunmalkluge, nervige Kind verkörpert, das man oft in solchen Konstellationen sieht. Sie ist offensichtlich selbst von ihrer Lebenssituation überfordert und durch ihre Einsamkeit so verletzt, dass Wut und Widerspruch ihr einziges Ventil sind.

Seit dem Tod ihrer Eltern begegnet Lilo (Maia Kealoha) ihrer Umwelt vor allem mit Wut und Ablehnung – bis sie auf Stitch trifft Walt Disney Pictures
Seit dem Tod ihrer Eltern begegnet Lilo (Maia Kealoha) ihrer Umwelt vor allem mit Wut und Ablehnung – bis sie auf Stitch trifft

Allerdings fällt hier auch deutlich auf, dass „Lilo & Stitch“ gegenüber dem Original etwas entschärft wurde – womöglich, weil die Darstellung von Konflikten in einem Realfilm auch noch mal eine ganz andere Wirkung entfaltet als in einer animierten Erzählung. Lilo und Nani gehen sich so nur einmal wirklich an die Gurgel, und die Überforderung der älteren Schwester wird uns mehr mitgeteilt als wirklich nachdrücklich gezeigt. Auch die Aliens sind über weite Strecken nicht wirklich eine Bedrohung, weil „Aladdin“-Szenendieb Billy Magnussen und „Hangover“-Star Zach Galifianakis vor allem herumalbern dürfen, wie ihre Figuren Probleme damit haben, ihre menschlichen Tarnkörper (eine Änderung zum Original) zu verstehen. Selbst der hier von Beginn an als CIA-Agent auftretende Cobra Bubbles (im Original ist das ein später Twist) hat zwar ein autoritäres Wesen, doch auch sichtbar das Herz am rechten Fleck.

Bei dem berührenden und unterhaltsamen Familienfilm hat man sich auch jenseits davon sichtlich bemüht, das junge Zielpublikum immer im Fokus zu behalten. Da erklingen dann auch nur halb so viele Elvis-Presley-Songs wie noch im Original. Und gleich zwei Mal beginnt visuell eine Western-Referenz, die nur die Erwachsenen verstehen würden. Bevor diese dann aber richtig ausgespielt wird, folgt schon ein weiterer chaotischer Gag, über den die Kleinen herzhaft lachen können.

Modern und trotzdem erfrischend Old-School

Gleichzeitig gelingt Regisseur Fleischer Camp aber auch eine behutsame Modernisierung und Anpassung an die heutige Zeit, ohne sich dieser anzubiedern. TikTok und Co. sind Teil dieser Welt, ohne in den Fokus gerückt zu werden – ganz im Gegenteil. „Lilo & Stitch“ wirkt bisweilen erfrischend Old-School. Dazu gehört auch, dass die ersten Minuten auf einer Alien-Raumstation nicht hyperrealistisch daherkommen, sondern man sich beim Auftakt noch in einem Animationsfilm wähnt.

Der Fokus auf Figuren statt auf Technik passt auch zum Thema des Films. Denn wie schon beim Original geht es um „ohana“, die große Familie, zu der alle gehören können – selbst ein seine wenigen Worte schräg knurrendes Alien mit Zerstörungstrieb. Und das ist eine Botschaft, die wir im Kino zwar schon oft gesehen haben, die aber gut gemacht doch jedes Mal berührt.

Fazit: „Lilo & Stitch“ ist ein familienfreundliches, visuell charmantes Remake, das mit Herz und Botschaft überzeugt – aber gleichzeitig vieles von der Wildheit und den Reibungen des Originals glättet. Vor allem dank zweier starker Hauptfiguren berührt die zentrale Botschaft über Familie, Zugehörigkeit und zweite Chancen auch in dieser neuen Version.

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