The Life Of Chuck
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,5
hervorragend
The Life Of Chuck

Eine der besten Stephen-King-Verfilmungen überhaupt!

Von Oliver Kube

Mike Flanagan („Oculus“) hat sich bislang vor allem im Grusel-Genre einen Namen gemacht, so etwa mit dem Netflix-Megahit „Spuk in Hill House“ oder dem „Shining“-Sequel „Doctor Sleep“. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass sich der Regisseur für sein erstes Nicht-Horror-Projekt ausgerechnet einen weiteren Stoff seines Lieblingsautors Stephen King ausgesucht hat, der zwar zu Recht der König des Grauens genannt wird, aber mit den Romanvorlagen für Filmklassiker wie „Stand By Me“, „The Green Mile“ und „Die Verurteilten“ ebenfalls schon Stoffe abseits seines Stamm-Genres verfasst hat.

Und was sollen wir sagen, es war eine großartige Wahl: „The Life Of Chuck“ ist ein erstklassig gespieltes, packendes Drama, das sein Publikum schnell in seine Welt hineinzieht und gedanklich sicherlich auch noch eine ganze Weile nach dem Ende des Abspanns weiter beschäftigen wird. Kein Wunder, dass der Film bei seiner Weltpremiere beim Filmfestival in Toronto den begehrten Audience Award abgesahnt hat – schließlich sagt gerade dieser Preis relativ zuverlässig voraus, ob sich ein Film Chancen im kommenden Oscar-Rennen ausrechnen darf.

Tom Hiddlestons Rolle ist zwar kleiner als erwartet – aber er hinterlässt trotzdem einen riesigen Eindruck (vor allem auf dem Tanzparkett). Tobis Film
Tom Hiddlestons Rolle ist zwar kleiner als erwartet – aber er hinterlässt trotzdem einen riesigen Eindruck (vor allem auf dem Tanzparkett).

In einer US-amerikanischen Stadt tauchen plötzlich überall Plakate und Werbetafeln mit demselben Motiv auf. Diese danken einem gewissen Charles „Chuck“ Krantz (Tom Hiddleston) für „39 großartige Jahre“. Auch der Lehrer Marty Anderson (Chiwetel Ejiofor) und die Krankenschwester Felicia Gordon (Karen Gillan), die zwar nicht mehr verheiratet sind, aber sich immer noch gut verstehen, sind verwirrt – haben zugleich aber aktuell ganz andere Sorgen: Wie es aussieht, wird die Welt, wie sie sie kennen, nämlich nicht mehr lange existieren. In Russland gab es einen Regierungsumsturz, Deutschland ist nur noch eine einzige Vulkanlandschaft und in Asien ist die Beulenpest ausgebrochen. In Nordamerika regnet es dagegen immer wieder sintflutartig, weshalb 80 Prozent von Kalifornien bereits im Meer versunken sind, womit sich auch das Internet unwiderruflich verabschiedet hat.

All das ist aber wohl nur der Anfang des offenbar unaufhaltsamen Endes unserer Zivilisation. Und doch fragt Marty sich immer wieder, wer wohl dieser Chuck sein könnte, dessen Konterfei allgegenwärtig wirkt, den aber niemand zu kennen scheint. Der als gewöhnlicher Buchhalter arbeitende Chuck verlor seine Eltern früh bei einem Unfall. Danach wuchs er bei seinen ihn liebevoll umsorgenden Großeltern auf. Seine Oma Sarah (Mia Sara) gab ihre Leidenschaft fürs Tanzen an ihn weiter. Opa Albie (Mark Hamill) führte den Jungen nicht nur in die Kunst der doppelten Buchführung ein, sondern versuchte auch, ihn vor dem düsteren Geheimnis in der abgesperrten Dachkammer des Familienheims zu schützen…

Alles nur kein Horror

„The Life Of Chuck“ vereint Elemente vieler Genres in sich – nur eben keinen Horror. Bis auf einen kurzen übernatürlich angehauchten Moment gegen Ende ist das Werk eine Coming-of-Age-Story, eine traurige Romanze sowie ein Katastrophenfilm. Zudem enthält es Teile eines fiktiven Biopics, einer bittersüßen Familienkomödie, eines Ratekrimis und nicht zuletzt eines begeisternd dynamisch choreografierten und performten Musicals mit Marvel-Star Tom Hiddleston („Thor“) und Annalise Basso („Snowpiercer“). Vor allem die Tanz-Sequenzen werden ganz sicher die Momente von „The Life Of Chuck“ sein, mit denen der Streifen noch in vielen Jahren als allererstes identifiziert werden wird.

Weil wir die Abfolge der Ereignisse in drei in umgekehrter Reihenfolge angeordneten Akten erleben, ist die Story eine Art Puzzle, bei dem die Geschichten von Chuck und seiner Welt erst nach und nach zusammengesetzt werden. Diese Struktur hat Mike Flanagan direkt aus der Vorlage „Chucks Leben“ übernommen. Überhaupt bleibt der Filmemacher sehr nah am nur gut 50 Seiten umfassenden Original, das – zusammen mit drei anderen Novellen erstmals im Jahr 2020 im Stephen-King-Sammelband „Blutige Nachrichten“ (» hier zur Vorbereitung auf den Film bei Amazon bestellbar*) veröffentlicht wurde.

Regisseur Mike Flanagan mit seinem Sohn Cody Flanagan, der als ganz junger Chuck ebenfalls in einer kleinen Rolle mitspielt. Tobis Film
Regisseur Mike Flanagan mit seinem Sohn Cody Flanagan, der als ganz junger Chuck ebenfalls in einer kleinen Rolle mitspielt.

King-Fans dürfen sich also darüber freuen, dass Flanagan sehr wenig angepasst, hinzugefügt oder ausgelassen hat – und wenn doch, dann nur zum Besten des Films. Am auffälligsten sind dabei eine kurze, tragikomische Unterhaltung zwischen der Lehrerfigur von Chiwetel Ejiofor („12 Years A Slave“) sowie dem von David Dastmalchian („Late Night With The Devil“) verkörperten Vater eines Schülers – und der Umstand, dass die Tanz-Sequenz diesmal nicht von einem Straßenmusiker, sondern von einer Straßenmusikerin (Taylor Gordon alias YouTube-Sensation The Pocket Queen) angestoßen wird. Ansonsten sind nicht nur die pointierten Zeilen des Erzählers (ganz großartig im englischsprachigen Original: Nick Offerman), sondern auch die Dialoge nahezu eins zu eins aus dem Buch übernommen.

Flanagans Skript und Schnitt zählen – wie schon bei vielen seiner vorherigen Arbeiten – zu den großen Stärken des Films. Die Szenen sind knackig, direkt und auf den Punkt präsentiert. Keine ist zu lang, keine zu kurz. Es wird immer nur so viel gezeigt und verraten, wie wir sehen beziehungsweise wissen müssen, um unserer Fantasie freien Lauf zu lassen. Das gelingt so effektiv, dass wir mehrfach glauben zu ahnen, was als Nächstes kommt – nur um dann mittels einer immer glaubhaften kleinen Wendung oder Abzweigung doch wieder überrascht zu werden.

Ein kurzer, aber brillanter Auftritt von Tom Hiddleston

Chiwetel Ejiofor und Karen Gillan („Guardians Of The Galaxy“) sind ganz wunderbar zusammen. Es wird schnell klar, warum ihre durch und durch sympathischen Charaktere sich einst ineinander verliebten, aber auch, weshalb sie nach der Trennung offenbar weit besser miteinander auskommen. Tom Hiddleston wird in den PR-Materialien zwar an erster Stelle genannt, hat aber weniger Screentime als einige seiner Co-Stars. Dazu zählen neben Ejiofor etwa auch der kaum wiederzuerkennende, aber brillant auftrumpfende Mark Hamill – oder selbst der anrührend aufspielende Newcomer Benjamin Pajak, der die Titelfigur in jungen Jahren verkörpert. Und doch gelingt es dem „Loki“-Star – mit seiner Tanzeinlage sowie den wenigen Momenten davor und danach – enormen Eindruck zu hinterlassen. Der Kerl hat einfach ein unwiderstehliches Charisma, und bewegen kann er sich auch noch verdammt gut.

Die drei Kapitel von „The Life Of Chuck“ ergeben allerdings kein komplettes Bild – Fragen bleiben unbeantwortet, einiges wird angedeutet, dann aber nicht weiterverfolgt. Das mag ein wenig frustrierend klingen, ist aber jedes Mal die absolut richtige Entscheidung. Das Leben der Titelfigur endet, ohne dass sie wüsste, ob und wie alles ausgeht. Was passend ist, denn auch von uns wird niemand erleben, ob und wie das Abenteuer der Menschheit schließlich in ein großes Happy End oder in eine Tragödie mündet. In Mike Flangans Film geht es darum, das Leben, das wir haben, anzunehmen, so wie es ist, und es bestenfalls zu genießen – so lange und so intensiv wie nur möglich.

Fazit: Kann ausgerechnet ein melancholischer Katastrophenfilm um das uns alle unausweichlich erwartende Ende unseres Daseins wirklich ein das Herz erwärmendes, erbauliches und vor allem lebensbejahendes Kinoerlebnis bieten? Ja, kann er. Mit „The Life Of Chuck“ beweisen das ausgerechnet die beiden Horror-Experten Mike Flanagan und Stephen King auf eindrucksvoll charmante Weise. Ein Wohlfühl-Meisterstück ohne jeden Kitsch.

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