Neukölln goes Shakespeare
Von Michael MeynsShakespeare in Berlin. Die Intrigen von „Richard III.“ auf den Straßen Neuköllns. Statt den englischen Königshäusern treffen arabische Großfamilien aufeinander. Im ersten Moment hört sich der Ansatz von Burhan Qurbanis „Kein Tier. So Wild.“ großartig an – verführerisch, sexy, ambitioniert, wie man es vom Regisseur von „Berlin Alexanderplatz“ gewöhnt ist. Aber ob die Allegorie dann auch tatsächlich funktioniert und vor allem fast zweieinhalb Stunden trägt, steht noch mal auf einem anderen Blatt.
Nicht Richard, sondern Raschida heißt hier die Hauptfigur, eine moderne, weibliche Version eines klassisch männlichen Stoffes? Auch dieser Ansatz ist spannend – und wirkt wie so vieles an diesem Film doch unterentwickelt. Große Momente gelingen Qurbani, bisweilen funktioniert sein Film wie ein cleveres Spiel mit Klischees und Stereotypen. Dann wieder wirkt es wie ein bemüht bedeutsames Stück Kino, das auf dem Papier Aufregung pur verspricht, auf der Leinwand dann aber oft wie ein Hip-Hop-Video mit schlecht imitierten Posen wirkt.
Es scheint endlich Ruhe zu herrschen zwischen den Yorks und den Lancastars, zwei arabischen Großfamilien aus Berlin. Die Anwältin Raschida (Kenda Hmeidan), jüngste Tochter des Hauses York, hält vor Gericht eine flammende Rede für den Frieden, doch der ist brüchig. Ihr Bruder Ghazi (Camill Jamall) soll zur Besänftigung ins Gefängnis, in den Tower, sie selbst soll Ali Lancaster (Ibrahim Al-Khalil) heiraten.
So hat es ihr Bruder Imad (Mehdi Nebbou) beschlossen, der Anführer des Clans, der zusammen mit seiner angeheirateten deutschen Frau Elisabeta (Verena Altenberger) große Pläne schmiedet: Eine riesige Moschee soll entstehen, dazu mit der Mall of York ein Einkaufszentrum. Doch Raschida hat eigene Pläne, die viel Blut und Verderben über die Häuser und ihre Mitglieder bringen werden…
„Zwei Familien spalten die Unterwelt Berlins“, heißt es an einer Stelle über die arabischen Großfamilien, die sich brutale Bandenkriege liefern und mit Erpressung, Drogen, Schutzgeld und Mord Kohle ohne Ende verdienen. So etwas wagen sich nur wenige deutsche Filmemacher: sich in sinnlichen Bildern des Exzesses suhlen, migrantisch konnotierte Menschen zeigen, die sich gerade so verhalten, wie es sich AFD-Anhänger*innen und sonstige Rechtspopulist*innen vermutlich vorstellen.
Burhan Qurbani ist deutscher Staatsbürger, er wurde in Erkelenz in Nordrhein-Westfalen geboren und hat afghanische Eltern. Wenn er nun in seinem vierten Spielfilm „Kein Tier. So Wild.“ bewusst mit den Klischees und Stereotypen spielt, die allzu oft in der Presse über Menschen mit Migrationshintergrund verbreitet werden, wirkt das zunächst einmal interessant. Klischees zu übersteigern, um sie dadurch ins Lächerliche zu ziehen, sie zu entlarven, könnte als Ansatz funktionieren, wenn er nicht im Ansatz stecken bleiben würde. Es ist eine Idee, eine gute, aber was folgt daraus? Wie wird aus dem Ausgangspunkt eine funktionierende Allegorie, die etwas über die deutsche, speziell die Berliner Realität erzählt, so wie es Qurbani offenbar vorschwebt?
Ein Problem dabei: Berlin kommt im Film, abgesehen von ein, zwei Erwähnungen auf der Tonspur, nicht vor. Die Settings bleiben stattdessen austauschbar: Es sind dunkle, schummrige Lokale oder Bordelle, die so düster ausgeleuchtet wirken, als hätte da jemand ganz genau bei „Der Pate“ zugeschaut. Dazu eine Brachfläche im Schatten eines Autobahnzubringers, die überall sein könnte. Ganz ähnlich das Parkhaus, schön brutalistisch und grau, das spätestens dann an Christopher Nolan erinnert, wenn Motorräder die Rampen herunterfahren. Dazu macht es auf der Tonspur „Bäm“, dass selbst ein Bombast-Fan wie Hans Zimmer seine helle Freude daran hätte.
Qurbani hat seine Vorbilder genau studiert, imitiert sie bisweilen in starken Bildern, die auch gut aus amerikanischen Gangsterfilmen stammen könnten. Zumindest dann, wenn sie nicht gerade mal wieder gestelzt und gewollt wirken, zumal sich das Drehbuch nie so recht entscheiden kann, ob die Figuren nun in Shakespeare’schen Hexametern oder doch in zeitgenössischem Slang sprechen sollen. Meist haben sich Qurbani und seine Co-Autorin Enis Maci für ersteres entschieden, was mal mehr, mal weniger stimmig aufgeht, mal wuchtig, mal albern wirkt.
Von der Rolle der Frau in der Welt arabischer Migranten soll „Kein Tier. So Wild.“ erzählen – unter anderem, muss man bei diesem überbordenden Film wohl besser sagen. Von arrangierten Ehen ist die Rede, vom Krieg, der Männersache sei, während es die Frauen sind, die zu Hause bleiben, die Toten beklagen und am Ende Frieden schaffen. Doch Rachida dreht den Spieß um, sie ist die blutrünstige in diesem Spiel, drängt selbst ihre Amme dazu, als Auftragskillerin ihre Rachsucht zu stillen. Immer wieder wirken diese umgedrehten Geschlechterverhältnisse, als würden sie sich zu einem interessanten Kommentar der Gegenwart entwickeln.
Zahllose Bezüge streut Qurani ein, lässt seinen Film in einer Wüstengegend des Nahen Osten beginnen und enden, es gibt Verweise zu Flucht und Krieg, sogar Franz und Reinhold, die Hauptfiguren aus seinem vorherigen Film „Berlin Alexanderplatz“, finden Erwähnung. Aber warum? „Warum nicht?“, scheint die Antwort auf vieles zu sein, warum nicht lieber noch einen weiteren Verweis unterbringen, als zu versuchen, einiges klarer zu erzählen. So endet „Kein Tier. So Wild.“ wie er begann: In einer Kakophonie aus Bildern und Bezügen, die im besten Fall mitreißen, wuchtig und bildgewaltig inszeniert sind, immer wieder aber auch wirr und beliebig erscheinen. Ein ehrgeiziger Versuch, Shakespeare neu zu interpretieren, der jedoch immer wieder an seinen eigenen hochgesteckten Ambitionen scheitert.
Fazit: Beim Versuch, Shakespeares Tragödie „Richard III.“ in die Gegenwart zu verlegen, gelingen Burhan Qurbani in seinem Gangsterepos „Kein Tier. So Wild.“ beeindruckende Szenen und wuchtige Bilder, die sich jedoch kaum zu einem runden Ganzen fügen, sondern sich ständig in einem allzu konfusen Spiel mit Verweisen und Bezügen zu verlieren drohen.
Wir haben „Kein Tier. So Wild.“ im Rahmen der Berlinale 2025 gesehen, wo er in der Sektion Berlinale Special gezeigt wurde.