Kill The Jockey
Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
Kill The Jockey

Surreal, exzessiv, eigenwillig

Von Ulf Lepelmeier

Mit „Kill The Jockey“ legt der argentinische Regisseur Luis Ortega einen ebenso überbordenden wie eigensinnigen Film vor, der sich klassischen Erzählmustern weitgehend entzieht. Entstanden ist ein exzessives, visuell spannendes, aber erzählerisch zunehmend ausfransendes Stück Kino, das sich im markanten 70er-Jahre-Look zwischen surrealer Identitätssuche, schräger Reitsport-Milieustudie und queerer Genredekonstruktion verortet. Ortega, der bereits in „Der schwarze Engel“ eine ambivalente Gangsterfigur ins Zentrum rückte, geht hier noch radikaler vor und verabschiedet sich fast vollständig von einer konsistenten Kriminalhandlung. Stattdessen entwirft er einen episodischen Trip durch Transformation, Tod und Wiedergeburt – eingebettet in eine eigenwillige Mischung aus schwarzer Komödie und groteskem Neo-Noir.

Remo Manfredini (Nahuel Pérez Biscayart) gilt als Rockstar des Pferderennsports. Mit starrem Blick und fast vollständig wortlos ist er eine schillernde Erscheinung in der argentinischen Halbwelt. Trotz seiner Beziehung zu seiner schwangeren Freundin Abril (Úrsula Corberó) rutscht Remo immer weiter in einen selbstzerstörerischen Strudel aus Alkohol, Drogen und emotionaler Entfremdung. Darunter leidet auch seine Karriere als Jockey, doch ans Aufhören ist nicht zu denken. Remo steht tief in der Schuld des Gangsterbosses Sirena (Daniel Giménez Cacho), der ihm eine letzte Chance einräumt, mit einem entscheidenden Pferderennen sein Geld zurückzuzahlen. Doch das wichtige Event endet im Desaster und wird zum Beginn eines surrealer Selbstfindungsprozesses. Eine absurde Odyssee voller skurriler Begegnungen nimmt ihren Lauf…

Remo (Nahuel Pérez Biscayart) hat keinen Bock mehr auf Pferderennen – aber das Aufhören kommt ihm teuer zu stehen. MFA
Remo (Nahuel Pérez Biscayart) hat keinen Bock mehr auf Pferderennen – aber das Aufhören kommt ihm teuer zu stehen.

Im Zentrum von „Kill The Jockey“ steht Remo Manfredini, der zu Beginn kaum mehr als ein lebloser Körper ist. In einer betont symbolischen ersten Szene sehen wir ihn schlafend, beinahe bewusstlos, als ein Abbild innerer Leere. Sein Leben kreist um Alkohol, Drogen und apathisches Dahintreiben, wenn er nicht gerade im Sattel sitzt. Ein beinahe tödlicher Unfall setzt bei dem einst erfolgreichen Jockey einen Transformationsprozess in Gang, der seine Identität vollends auflöst. Doch Ortega erzählt diese Wandlung nicht als klassische Selbstfindungsgeschichte, sondern als surreal aufgeladenen Rausch aus Metaphern, ekstatischen-schrägen Tableaus und eskalierenden Bildern.

Remos neu gewonnene Freiheit als Dorlores steht dabei unter ständiger Bedrohung durch die Dämonen aus seiner kriminellen Vergangenheit und der unheimlichen Gestalt des berüchtigten Malevo Ferreyra (Jorge Prado). Den einstigen Provinz-Polizeichef, der in Argentinien als Symbolfigur für Selbstjustiz und Folter im Zuge der „Schmutzigen Krieg“-Doktrin der Militärdiktatur gilt, lässt Ortega als beständig wiederkehrendes düsteres Omen der Zeit und des unausweichlichen Schicksals auftreten. Die im Hintergrund wabernde Schwere von Tod und Verfolgung wird dabei durchgängig durch grotesken Humor und absurde Situationskomik gebrochen.

Der totale Exzess

Bereits in „Der schwarze Engel“ deutete sich Ortegas Faszination für Stilmittel jenseits klassischer Erzählmuster an. „Kill The Jockey“ treibt diese Handschrift nun auf die Spitze. Der Plot gerät zusehends zur Nebensache, die Figurenzeichnung verwischt sich in der episodischen Struktur, in der Remo durch verschiedene Stationen taumelt. Ortega inszeniert lieber Stimmungen als Handlungen, kostet Performance-Szenen aus. Die bereits in seinem Vorgängerfilm eingesetzten Tanzauftritte werden hier zu ausufernden Choreografien in eigenwilligen Jockey-Kostümen, die in ihrer Videoclipinszenierung den narrativen Fluss der Story zwar unterbrechen, aber die coole Stimmung und die Anspannung der Figuren unterstreichen. Zudem sind einzelne Einstellung besonders gelungen: Wie etwa eine wunderbar eingefangene Szene durch eine gläserne Drehtür, die die Orientierungslosigkeit der Hauptfigur gekonnt aufgreift, oder eine subjektive Reitszene, die den Zuschauer direkt in den Sattel versetzt.

Ortegas Kino ist eines des Exzesses. Schrille Kostüme, wilde 70er-Tableous und ein Soundtrack, der argentinische und spanische Klassiker der 60er und 70er Jahre zelebriert, vermengt Ortega zu einer eigenwilligen Handschrift. Ästhetisch knüpft er an Einflüsse des Exploitation-Kinos an, vermischt diese aber mit zeitgenössischer Queerness und einer gewissen grotesken Theatralik, die an Werke von Pedro Almodóvar oder auch speziell an Jacques Audiards Gangster-Musical „Emilia Pérez“ erinnern lässt. Beide Filme bedienen sich einer ähnlich überhöhten Ästhetik, spielen mit geschlechterfluiden Inszenierungen und präsentieren eine Mischung aus Machismo, Melodramatik und Selbstfindungselementen.

Mit seinem großartigen Spiel hält Nahuel Pérez Biscayart den narrativ ausfransenden Film dennoch zusammen! MFA
Mit seinem großartigen Spiel hält Nahuel Pérez Biscayart den narrativ ausfransenden Film dennoch zusammen!

Ortegas Figuren sind dabei nicht psychologisch tief gezeichnet, sondern eher Projektionsflächen für existenzielle und gesellschaftliche Themen, allen voran Fragen von Geschlecht, Begehren und Identität. Bei aller inszenatorischen Wucht droht Ortegas formale Freiheit allerdings die emotionale Fallhöhe der Geschichte zu überdecken. Die Verknüpfung von surrealer Bildsprache und groteskem Humor verhindert eine klare emotionale Bindung an die sonderbaren Figuren. Remos Ringen um Freiheit und Zugehörigkeit verliert sich so teils im Stilwillen des Regisseurs.

Was den Film zusammenhält, ist die herausragende Performance von Nahuel Pérez Biscayart („120 BPM“). Mit minimalistischem Spiel, einer fast schon pantomimischen Präzision und der Bühnenpräsenz eines Rockstars gelingt es ihm, die fragile Gratwanderung zwischen den Geschlechteridentitäten zu verkörpern. Gerade in den ekstatischen Tanz- und Performance-Passagen verschmilzt seine physische Präsenz mit der audiovisuellen Ausdruckskraft des Films. Sein Jockey ist nicht nur Sportler, sondern auch Projektionsfläche für unterschiedlichste Figuren – von Gangstern bis Kinder. In seinen Momenten des Taumelns und Suchens ist Remo dabei an Charlie Chaplins Tramp-Figur angelegt: Er erscheint verloren, doch hat eine fast kindliche Neugier auf das Absurde, das ihm begegnet. Wie etwa dem Mafia-Boss Sirena, der stets ein Baby im Arm hält, das angeblich seit Jahren nicht altert.

Fazit: „Kill The Jockey“ ist ein exzentrischer und stilisierter Trip eines Identitäts- und Transformationsprozesses. Luis Ortega beweist sich dabei zwar als kompromissloser Stilist, doch zwischen den schrillen Tableaus und der episodischen Struktur bleibt die emotionale Tiefe bisweilen auf der Strecke. Ein eigenwilliger Film, der sein Publikum in Ortegas ganz eigene filmische Parallelwelt entführt. Für Fans von schrägem Autorenkino allemal einen Blick wert.

Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
Das könnte dich auch interessieren