Herbstliches Wohlfühlkino von der Insel
Von Sidney ScheringDie ruhigeren Winkel des Vereinigten Königreichs scheinen etwas an sich zu haben, das dezent kauziges, leicht dramatisches Wohlfühlkino inspiriert: Von „Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam“ bis „Der Engländer, der in den Bus stieg und bis ans Ende der Welt fuhr“ – grüne Wiesen und nass-forsche Gemüter mit Dickschädeln bilden offenbar eine verlässliche Grundlage für Filme, die zwar keine Revolution darstellen, aber charmant den Tag versüßen.
In dieser Tradition steht jetzt auch ein Film, den man in Deutschland ebenso gut als „Der Engländer, der eine Waliser Insel bereiste und die Musik wiederfand“ hätte vermarkten können: „The Ballad Of Wallis Island“ dreht sich um einen Folkmusiker in der Krise, seine aus dem Geschäft ausgestiegene Muse/Ex-Partnerin sowie einen sozial ungelenken Superfan. Und „Cuban Fury“-Regisseur James Griffiths inszeniert das dermaßen schroff-muckelig, dass die Waliser Inselstimmung selbst „Promising Young Woman“-Mimin Carey Mulligan überstrahlt...
Herb McGwyer (Tom Basden) wird mit einer satten Gage zu einem sonderbaren Gig verführt: Er soll auf der Insel Wallis Island ein privates Strandkonzert geben und dabei vornehmlich Songs aus der Zeit spielen, zu der er noch mit seiner Ex Nell Mortimer (Carey Mulligan) ein Folk-Duo bildete. Erst auf der hügeligen, dünn besiedelten Insel nahe der Küste von Wales lernt er seinen Auftraggeber kennen: Der alleinstehende, ständig brabbelnde Exzentriker Charles Heath (Tim Key) beherbergt Herb in seinem Anwesen – und will beim Konzert unbedingt der einzige Gast sein, weshalb er nicht einmal die befreundete Ladenbesitzerin Amanda (Sian Clifford) eingeladen hat!
Herb könnte glatt fürchten, dass er einem gruseligen Stalker auf den Leim gegangen ist. Doch dann zeigt sich, dass auch Nell auftreten soll – und Charles in Wahrheit rührende Absichten verfolgt. Aber nur, weil nun der Takt klar vorgegeben ist, folgt nicht automatisch Harmonie...
„The Ballad Of Wallis Island“ wurde von den Hauptdarstellern Tom Basden und Tim Key selbst geschrieben – und wirkt dabei insbesondere Key wie auf den Leib geschneidert: Der Schauspieler, der kürzlich in Bong Joon-hos „Mickey 17“ als Mann im Taubenkostüm auffiel, ist auch als Stand-up-Komiker erfolgreich. Sein Gespür dafür, auf harmlose Weise in sozialen Dingen ignorant zu wirken und aus konfusem Gebrabbel überraschende Bonmots entwachsen zu lassen, spielt er als Einsiedler Charles herrlich aus: Der einsame Millionär, der plappert wie ein Wasserfall, hat alles, was es für eine waschechte Nervensäge braucht! Doch dank seines treudoofen Blicks und scheuen Lächelns kann man ihm nie lang böse sein. Hinter der nervösen Begriffsstutzigkeit verbirgt sich zu deutlich eine sich nach Harmonie sehnende Seele. Dass Key diese Rolle dermaßen leicht von der Hand geht, dürfte nicht ausschließlich daran liegen, dass er sie selbst mitgeformt hat.
Stattdessen kam ihm und dem sympathisch-authentisch leidenden Basden der Umstand zugute, dass sie diese Rollen schon einmal unter Griffiths' Regie gespielt haben: „The Ballad Of Wallis Island“ basiert nämlich auf dem bereits 2007 veröffentlichten Kurzfilm „The One And Only Herb McGwyer Plays Wallis Island“, der ebenfalls von Key und Basden geschrieben wurde. Der erste Akt ihres neuen Langfilms ist jetzt ein detaillierter ausgestattetes, inszenatorisch ausgefeilteres Remake, in dem Key ein noch besseres Händchen für Komik beweist. Neue Horizonte tun sich unterdessen im zweiten Akt von „The Ballad Of Wallis Island“ auf, sobald neu für den Langfilm geschaffene Figuren auf der Insel aufschlagen: Nell und ihr Ehemann Michael (Akemnji Ndifornyen).
„The One And Only Herb McGwyer Plays Wallis Island“ erzählte noch von einem in die Kommerzfalle getappten Solokünstler. In „The Ballad Of Wallis Island“ ist Herb McGwyer ein Folkmusiker, der seit der Trennung von seiner Muse, Gesangspartnerin und großen Liebe verzweifelt nach einem frischen Sound und neuem privaten Antrieb sucht. Zu Herbs Frust hat Nell all ihre Harmonie gefunden: Sie lebt als Chutney-Herstellerin den im Folk oft besungenen Traum einer naturverbundenen, bescheidenen Person. Zudem ist ihr Gatte passionierter Vogelbeobachter und absolut verständnisvoll. Er käme nie auf die Idee, etwaige Eifersuchtsdramen weiter anzufachen.
Solches Feingespür fehlt Charles: Mehrmals betont er selbst in Michael Anwesenheit, dass Nell und Herb ein unfassbar tolles Musik- und Liebespaar waren – und wie schade es doch sei, dass sie inzwischen getrennt sind. Die Frage, ob Charles einfach nicht nachdenkt, bevor er den Mund öffnet, oder plant, seine Idole wieder zu verkuppeln, wird zu einer narrativen Triebfeder des mittleren Drittels von „The Ballad Of Wallis Island“. Noch gewichtiger ist Herbs vom Wiedersehen inspirierte Rückkehr zu seinen musikalischen Wurzeln: Der eigentlich an einem forciert-mainstreamigen Pop-Album tüftelnde Herb findet wieder Gefallen an seinem alten Stil und den mit Schmerz verbundenen Liedern von früher.
Doch Herb droht, von einem Extrem ins nächste zu verfallen – und seine kalkulierte, radikale Neuerfindung gegen die verkrampfte Imitation der Vergangenheit auszutauschen. So entsteht eine sensible Erzählung über gesunde Nostalgie, die der verletzten Seele Trost spendet, und den Schmerz intensivierenden Bemühungen, die Rückkehr einer unwiederbringlich abgeschlossenen Lebensphase zu forcieren. Mulligan-Fans sollten sich dabei darauf gefasst machen, dass die BAFTA-Preisträgerin in ihrer Charles' und Herbs Eskapaden geduldig und mit Witz begegnenden Rolle zwar überzeugt, aber kaum Gelegenheit erhält, Nells Innenleben profund auszuloten. Das ist eine vertane Chance!
Auch die etwas schwerfälligen Übergänge zwischen den erzählerischen Dritteln schmälern mitunter den Sehgenuss. Doch was „The Ballad Of Wallis Island“ letztlich über Neuanfänge und Trost spendende Musik zu sagen hat, weiß über diese Mängel durchaus hinwegzutrösten. Zumal Griffiths diese Handlung in gewitzt-beiläufige Metaphorik und abwechslungsreich eingefangene Schauplätze einbettet: Die titelgebende Insel kann ebenso als eindimensionales Postkartenidyll herhalten wie sie abschreckend-forsch und charaktervoll-gemütlich zu wirken versteht – genauso wie die zentralen Figuren des Films, ihre Musik sowie der Gedanke an eine vergangene Zeit, die sich nicht mehr zurückholen lässt.
Fazit: Die drei Akte von „The Ballad Of Wallis Island“ greifen zwar etwas holprig ineinander und „An Education“-Star Carey Mulligan wird nicht ausreichend gefordert. Aber ein eingespieltes Hauptdarsteller-Doppel, schroff-schöne Inselstimmung und rührend-kluge Gedanken über die Macht der Musik machen diese Tragikomödie dennoch zu gefälligem Wohlfühlkino mit Herz und Witz.