Die Schweizer Antwort auf "Braveheart"
Von Michael MeynsSelbst wer im Deutsch-Leistungskurs nicht so gut aufgepasst hat, kennt zumindest einen Moment, nämlich den mit dem Apfel, den der Titelheld mit der Armbrust von Kopf seines eigenen Sohnes schießen muss. Friedrich Schiller hat sich diese Szene ausgedacht, die den Mut und die spektakulären Fähigkeiten des Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell versinnbildlichen soll. Der hat es laut dem aktuellen Stand der historischen Forschung zwar nie wirklich existiert, aber das kommt dem britischen Regisseur Nick Hamm („The Hole“) durchaus gelegen.
Sein Abenteuerfilm „Wilhelm Tell“ nennt zwar Friedrich Schiller als Autor der Vorlage, hat aber weder mit Schiller noch mit der Schweizer Geschichte allzu viel zu tun. Stattdessen stilisiert Hamm seinen Tell – gespielt vom dänischen Hünen Claes Bang – zum unerschrockenen Freiheitskämpfer im Stile von Mel Gibsons „Braveheart“, der gegen finstere Schurken – Österreicher! - kämpft und sein Volk in die Freiheit führt.
Hoch in den Schweizer Alpen führt der ehemalige Kreuzritter Wilhelm Tell (Claes Bang) eine friedliche Existenz mit seiner Patchworkfamilie: Seine Frau Suna (Golshifteh Farahani) hat er im Morgenland kennengelernt, sein Sohn Walter (Tobias Jowett) stammt aus einer früheren Ehe. Die Feldarbeit füllt Tell aus, seine Armbrust nutzt er nur noch zur Jagd. Doch das ruhige Leben erfährt ein jähes Ende, denn Albrecht, König von Habsburg (Ben Kingsley mit seltsamer goldener Augenklappe) hat es auf die Schweizer Kantone abgesehen und schickt seine Steuereintreiber, um fortan auch beim Nachbarn abzukassieren.
In der friedlichen Alpengegend lässt der finstere Statthalter Gessler (Connor Swindells) rauben und vergewaltigen, bis die Landbevölkerung endgültig genug von den österreichischen Unholden hat. Die Rebellion gegen die Besatzer beginnt. Ein Bauer, der einen Geldeintreiber ermordet, wird von Tell beschützt. So wird Tell selbst unfreiwillig zum Rebellen – und schon bald auch zum legendären Tell-Schuss gezwungen…
Da sich das Allgemeinwissen über Wilhelm Tell in der angelsächsischen Welt wohl erst recht vor allem auf die berühmteste Szene der Tell-Legende beschränkt, ergibt es durchaus Sinn, dass Nick Hamm in seiner mehr als freien Adaption der Geschichte genau mit diesem Moment beginnt. Viel mehr ist aus Schillers Stück auch nicht übriggeblieben, keine hohle Gasse von Küssnacht wird durchschritten, ob der Vogt seine Rechnung mit dem Himmel macht, bleibt ebenfalls offen, denn Hamm verzichtet auf lyrische Zwischentöne und konzentriert sich vornehmlich aufs Grobe.
Anfangs wirkt „Wilhelm Tell“ zwar noch wie einer jener Historien-Filme, in denen versucht wird, Fakten und Legende zu trennen und die historisch belegbare Wahrheit hinter einer über die Jahrhunderte mythisch aufgeladenen Figuren herauszuschälen. Aber für den Fall, dass das wirklich die Absicht von Jon Hamm gewesen sein sollte, dann hat er sie im Laufe des Drehbuchschreibens schnell wieder ad acta gelegt, um stattdessen doch lieber eine ganz klassische Heldengeschichte zu erzählen – und das gar nicht mal schlecht!
Man kann sich zwar darüber amüsieren, dass alle Figuren in hochgestochenem Englisch sprechen und dass die Schauspieler*innen aus Dänemark, dem Iran, England, den USA, aber nicht aus der Schweiz stammen. Ebenso darüber, dass die spektakulären Bilder von den Weiten der Berge nicht etwa in den Schweizer Alpen gedreht wurden, sondern in Südtirol. Authentizität darf man hier also nicht erwarten, aber wie gesagt: Einen historischen Tell hat es ohnehin nicht gegeben. Dafür wirkt Claes Bangs wuchtiger Held ausgesprochen modern: Vom Kreuzzug im Morgenland hat er eine posttraumatische Belastungsstörung mitgebracht, die – wie man in Rückblenden erfährt – auch seine Lust am Krieg zerstört hat. Im richtigen Moment erwacht seine Kampfeslust natürlich wieder und seine Zielfertigkeit hat Tell selbstverständlich ohnehin nicht eingebüßt, sein Sohn wird es ihm danken.
Aus dem Morgenland hat er zudem seine Frau Suny mitgebracht, die sich als resolute, autonome Person entpuppt. Sie bleibt nicht einfach zu Hause und hält das Essen warm, während der Mann sich in den Kampf stürzt, nein, diese Protofeministin greift selbst zum Schwert und wird zum Teil der Rebellion. Besonders interessant, da sie unverkennbar eine Muslima ist, was dem Geschehen eine zusätzlich weltoffene Note gibt: Gemeinsam kämpfen Christen*innen, Heid*innen und Muslim*innen gegen die Unterdrückung, was angesichts der aktuell nicht unbedingt zu größter Toleranz neigenden Schweiz, die vor einigen Jahren etwa per Volksabstimmung den Neubau von Minaretten untersagt hat, noch einmal eine besondere Note bekommt.
Wie die Schweizer selbst diese – vorsichtig ausgedrückt – „freie“ Interpretation der Legenden um ihren Nationalhelden Wilhelm Tell auffassen, würde man gerne wissen. Abseits solcher Fragen überzeugt Nick Hamms Abenteuerfilm aber als angenehm altmodische Heldengeschichte mit progressiven Elementen.
Fazit: Weder mit Friedrich Schillers legendären Figur noch mit der realen Schweizer Geschichte hat dieser „Wilhelm Tell“ allzu viel am Hut. Doch die daraus resultierende erzählerische Freiheit nutzt der englische Regisseur Nick Hamm zu einem sehr unterhaltsamen Abenteuerfilm, in den der Däne Claes Bang mit Verve und Pathos als kampfesmüder Kreuzritter in den Kampf gegen die Unterdrückung zieht.