Wer hier nicht heult, hat ein Herz aus Plastilin
Von Jochen Werner„Kintsugi“ nennt man in Japan eine traditionelle Reparaturtechnik für zerbrochene Schalen oder Vasen aus Keramik. Wo wir – hier, oder eher heutzutage – vielleicht dazu neigen würden, seufzend die Scherben zusammenzukehren und uns mit dem Verlust eines eventuell geliebten, jedenfalls aber gebrauchten Gegenstandes abzufinden, setzt man im Geiste des Kintsugi diese Scherben sorgfältig wieder zusammen und verziert schließlich die Bruchlinien mit Gold oder anderen kostbaren Edelmetallen. Was zerbricht, kann repariert werden, und unsere Bruchstellen sind nichts, für das wir uns schämen müssen. Vielmehr wird in der Philosophie des Kintsugi alles durch seine Bruchstellen nur immer schöner, immer kostbarer. Dass sich derjenige, der die einsame Grace Pudel (Stimme im Original: Sarah Snook) mit dieser Philosophie bekannt macht, am Ende als ziemlicher Creep erweist, fügt sich dann allerdings auch nur als eine weitere Enttäuschung in ein an Brüchen nicht armes Leben.
Davon erzählt uns Grace selbst in der Rückschau – von einem Augenblick des Todes und der Trauer aus, an dem die Kriechtier-begeisterte Protagonistin des oscarnominierten Stop-Motion-Animationsfilms „Memoiren einer Schnecke“ scheinbar mit allem abgeschlossen hat. „Ich bin nicht immer einsam gewesen“, so beginnt ihre Erzählung, obgleich das melancholische Mädchen bereits in ihrer Kindheit mit allerlei Schmerz, Verlust und Not konfrontiert wird. Die Geburt von Grace und ihrem Zwillingsbruder Gilbert (Kodi Smit-McPhee) überlebt ihre Mutter nicht, und Vater Percy (Dominique Pinon) muss auf die brutale Tour feststellen, dass Sydney nicht das richtige Pflaster für französische Straßenkünstler ist: Nach einem schlimmen Unfall wird er zum querschnittsgelähmten Alkoholiker.
Es ist ein harter Stoff, den uns der australische Animationsfilmregisseur und Oscar-Preisträger Adam Elliot in seinem erst zweiten abendfüllenden Kinofilm (nach dem Knetmassen-Kult-Klassiker „Mary & Max oder Schrumpfen Schafe, wenn es regnet?“ von 2009) zumutet. Und trotzdem entpuppt sich „Memoiren einer Schnecke“ nicht nur als einer der berührendsten, sondern auch als einer der menschlichsten und in gewisser Hinsicht sogar auch hoffnungsvollsten Filme, die es seit langer Zeit im Kino zu sehen gab. Um zu dieser Hoffnung durchzudringen, müssen wir Grace und Gilbert jedoch zunächst durch allerlei Schicksalsschläge begleiten. Denn im Anschluss an den Tod ihres Vaters werden die Zwillinge zunächst in ein staatliches Waisenhaus gesteckt – und dann adoptiert, jedoch nicht zusammen, sondern einzeln an weit voneinander entfernten Enden des großen Kontinents.
Während Grace von einem wohlmeinenden Swingerpaar aufgenommen wird, das allen aufrichtigen Bemühungen zum Trotz gleichwohl nie wirklich eine Beziehung zur Adoptivtochter aufbauen kann, gerät Gilbert in die Klauen von christlich-fundamentalistischer Apfelbauern, die eine ganze Schar von Waisenkindern wie Sklaven für sich schuften lassen. Eine Geschichte wie aus einem Roman von Charles Dickens, an der Gilbert seine geliebte Schwester immer wieder durch Briefe teilhaben lässt – und eines Tages, so verspricht er ihr, wird er durch das ganze, weite Land laufen, um zu ihr zurückzukehren. Zu Fuß, quer durch die Wüste.
Auch für Grace ziehen die Jahre ins Land, aus dem gemobbten und verprügelten Schulmädchen mit der Schneckenmütze wird eine einsame, zurückgezogen lebende Bibliothekarin. Zum Glück ist da noch Pinky (Jacki Weaver), diese exaltierte, mit den Vorboten der Demenz ringende alte Dame, die zu Graces einziger Freundin wird und ihr aus einem ereignisreichen, mit Freude und Abenteuer vollgestopften Leben erzählt. Eine Freundin, die all das erlebt hat, was die traurige Grace vermisst. Und die auch für sie da ist und ihr aus seelischer wie körperlicher Not heraushilft, als das unverhoffte Glück, das Grace an der Seite des Mikrowellenreparateurs Ken (Tony Armstrong) findet, wie eine mit Bauchfett gefüllte Seifenblase zerplatzt.
Bis zum letzten Atemzug, mit dem der Tod die Lebensfreundinnen auseinanderreißt – in der allerersten Szene von „Memoiren einer Schnecke“, jenem Moment, in dem auch Grace endgültig aufzugeben und mit dem Leben abzuschließen scheint. Und doch, die Erzählung ist noch nicht zu Ende, Pinky hat Grace noch ein letztes Geschenk zu machen, und die Scherben, in die unser Leben manchmal zerbricht, verdienen es stets, noch einmal wieder zusammengeklebt zu werden. Golden schimmern unsere Narben.
Acht Jahre lang hat Regisseur Adam Elliot an der Produktion von „Memoiren einer Schnecke“ gearbeitet – ohne jede CGI-Unterstützung, ausschließlich mit in mühevoller Kleinarbeit Einzelbild für Einzelbild fotografierten Plastilin-Figuren und -kulissen. Die Welt, die er in diesem aufwendigen Prozess auf der Leinwand zum Leben erweckt, ist düster, fast monochrom und voller Enttäuschungen und Schmerzen – und doch auch voller Schönheit und Magie. Wie die allergrößten Meister*innen des Animationsfilms setzt Elliot nicht auf eine augenscheinliche Form von Realismus in der Gestaltung seiner Welten, sondern vertraut völlig zu Recht darauf, dass uns seine Figuren auch so mitten ins Herz treffen können.
Einen Kinderfilm hat Elliot definitiv nicht gemacht – oder jedenfalls gäbe es mit einem allzu jungen Publikum im Anschluss an die Sichtung einiges zu besprechen von elterlicher Seite. Geht es doch in „Memoiren einer Schnecke“ auch um all das, was ein erwachsenes Leben mitunter so beschwerlich macht. Tod, Verlust, Einsamkeit, Alkoholismus, religiöser Fundamentalismus, Homophobie, Krankheit und körperlicher Verfall. Schwere Substanzen, schon für ein erwachseneres Publikum, für kleinere Kinder sicherlich eher zu viel. Aber auch volljährige Zuschauer*innen dürften durchaus regelmäßig mit den Tränen kämpfen im Verlauf von Gracies in literarischer Form als Off-Monolog vorgetragener, tragischer Lebensgeschichte. Denn wer bei „Memoiren einer Schnecke“ nicht hier und da mal eine heimliche Träne im Dunkel des Kinosaals vergießt, für Gracie und Gilbert und ihr schweres Schicksal, der hat vermutlich ein Herz aus Plastilin.
Fazit: Der in achtjähriger Arbeit per Stop-Motion-Technik animierte zweite Kinofilm von Adam Elliot ist einer der bewegendsten Filme des Jahres, zum Bersten angefüllt mit Traurigkeit und melancholischer Schönheit. Für ein kindliches Publikum ist „Memoiren einer Schnecke“ sicherlich zu schwermütig und in emotionaler Hinsicht zu erwachsen. Allen anderen kann man diesen wunderbaren, tief berührenden Film gar nicht genug empfehlen.