"Lilo & Stitch"-Kontroverse: Bekommt ein stark gekürztes Element des Originals endlich seinen Platz oder wurde es ganz gelöscht?
Sidney Schering
Sidney Schering
-Freier Autor und Kritiker
Sidneys Lieblingsfigur ist Donald Duck, sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“ und bereits in der Grundschule las er eine Walt-Disney-Biografie. Wenn er könnte, würde er ins Disneyland auswandern, aber da das nicht geht, muss ihn seine Disney-Sammlung bei Laune halten.

Der Kino-Hit „Lilo & Stitch“ greift ein thematisches Element auf, das im gleichnamigen Trickfilm nur am Rande zur Geltung kam, aber in einigen Deleted Scenes des Disney-Klassikers prominent ausgearbeitet wurde. Kritische Stimmen sehen das anders.

Lilo & Stitch“ ist einer der größten (und ungewöhnlichsten) Erfolge des Jahres! Das lässt sich zweifelsfrei auf die immense Popularität des gleichnamigen Zeichentrickklassikers von 2002 zurückführen. Der hatte damals zwar nur soliden Kassenerfolg, allerdings baute der Disney-Spaß seine Fanbase via Heimkino, Streaming und TV enorm aus.

Wenn ihr zur Fanbase von „Lilo & Stitch“ zählt und euch noch nie die Deleted Scenes angeschaut habt, solltet ihr das nachholen! Denn das Regie-Team Chris Sanders & Dean DeBlois hat einige interessante Momente geopfert, die die Tonalität ihrer Geschichte verschoben hätten. Deleted Scenes zu „Lilo & Stitch“ findet ihr auf einigen Heimkino-Veröffentlichungen sowie in der Extras-Sektion, wenn ihr den Film bei Disney+ abruft:

Ein wichtiger Unterschied zwischen der Vision von „Lilo & Stitch“, die DeBlois und Sanders zwischenzeitlich anvisierten, und dem letztlich in die Kinos entlassenen Disney-Klassiker: Vorübergehend hätte sich konkrete Kritik am exzessiven Hawaiitourismus sowie am Verhalten vornehmlich weißer Tourist*innen zu einem prägnanten Subplot entwickelt! So waren Szenen vorgesehen, in denen Lilo sich herablassende Kommentare von Leuten vom US-Festland anhören muss und von ihnen begafft wird wie ein wildes Tier. Ebenso waren Sequenzen angedacht, in denen sie sich mit Streichen an den Touri-Massen rächt.

Nervige Touris: Vom Subplot zum Spurenelement

Oft wird spekuliert, dass die Disney-Studioleitung sich gesträubt hat, so offensichtlich Hawaiitourist*innen (und somit Teile des Publikums) zu kritisieren. Allerdings kann es unschuldigere Gründe geben: In seinem finalen Zustand hat der „Lilo & Stitch“-Zeichentrickfilm einen herausragenden Erzählfluss und jongliert seine thematischen sowie emotionalen Aspekte famos.

Möglich also, dass die Verantwortlichen hinter schlicht entschieden, der Story keinen Mini-Exkurs aufzubrummen, der von der zentralen Familienthematik wegführt. Die Seitenhiebe auf rücksichtslosen Massentourismus haben es immerhin in kleinerer Dosis in den fertigen Film geschafft:

Lilo sammelt Schnappschüsse von Touris. Die Tourismusbranche macht einen erheblichen Teil der Jobmöglichkeiten aus, die sich den erwachsenen Figuren bieten. Und in diesem Film voller Aliens ist ausgerechnet ein weißer, dicklicher Tourist mit Sonnenbrand, dem ständig sein Eis herunterfällt, der skurrilste Anblick.

Vom Spurenelement zur bedrückenden Omnipräsenz

Das Realfilmremake orientiert sich über weite Strecken nah am Original, wandelt es allerdings in einzelnen Passagen prägnant ab. FILMSTARTS-Autor Björn Becher fand Gefallen daran und vergab gute 3,5 Sterne. Der Verfasser dieses Artikels war weitaus weniger von Dean Fleischer Camps Neuverfilmung angetan. Doch was mich positiv überraschte, war die Art, wie Camp seinen Neuaufguss näher an die vom Original einst angedachte Kritik am Hawaii-Massentourismus rückt.

Zwar nimmt dieses Thema im von Chris Kekaniokalani Bright und Mike Van Waes verfassten Remake nie so prominent Form an wie in den Deleted Scenes zum Zeichentrickfilm. Jedoch unterstreicht die Neuverfilmung die im endgültigen Erstling vorhandenen Aspekte konstant: Hotelanlagen und sonstige Touri-Einrichtungen nehmen mehr Raum ein und stechen optisch unangenehm aus dem Rest Hawaiis heraus.

Die Realfilm-Lilo kommt in ihrer Freizeit schlechter um die Touri-Fallen herum als ihr Zeichentrick-Pendant – wogegen sie in ihrer Form rebelliert: Mehrmals sehen wir, wie sie Warnschilder ignoriert und es sich dreist auf den Hotelanlagen bequem macht. Frei nach dem Motto: Wir waren zuerst hier!

Selbst der Hula-Tanz, zu dem Lilo in beiden „Lilo & Stitch“-Varianten zu spät kommt, wirkt im Realfilm nicht mehr bezaubernd: Im Original ist es eine Tanzprobe, bei der die Einheimischen unter sich sind. Im Remake ist es dagegen eine alltägliche, glanzlose Aufführung für Tourist*innen. Diese dauernde Touri-Präsenz im Remake fand ich richtig unangenehm, womit Camp, Waes und der hawaiianische Drehbuchautor Bright beiläufig, aber gekonnt aufzeigen, dass Lilo und Co. in ihrer Heimat vom exzessiven Tourismus an den Rand gedrängt werden.

Oder ist es doch nur Romantisierung?

Entsprechend überrascht war ich, als sich vor allem im US-Diskurs ein kleiner, vehementer Gegenwind zu erkennen gab: Einzelne Stimmen kritisieren das „Lilo & Stitch“-Remake harsch dafür, es hätte die tourismuskritischen Elemente des Originalfilms komplett ausgelöscht. Zu diesen Stimmen zählt Caroline Madden von /Film, die sich daran stößt, dass die Randfigur des Eiscreme essenden Touristen zum Wassereis essenden Hawaiianer umgemodelt wurde.

Weiter empfindet Madden die ständige Präsenz der Hotelanlagen im Realfilm als romantisierend, zudem argumentiert sie, dass der veränderte Ausgang der Geschichte im Remake die Intention verfolgen würde, die Auswirkungen des Tourismus auf die Lebensrealität der einheimischen Bevölkerung zu verharmlosen. Für mein Empfinden wirft Madden da zwei verschiedene Aspekte des Remakes in einen Topf, trotzdem zeigt ihre Kritik hervorragend das Problem mit Neuverfilmungen dieser Art auf:

Wenn man eine toll funktionierende Vorlage größtenteils imitiert, aber sporadisch enorme Änderungen vornimmt, riskiert man letztlich, versehentlich missverständliche Botschaften zu senden. Ein „Lilo & Stitch“-Remake, das konstant auf sein neues Ende hinarbeitet, also mit bereits verschobenen Schwerpunkten beginnt, könnte seine emotionalen Wendepunkte stärker vorbereiten und seine neuen Aussagen besser erörtern. Das wäre zugleich deutlich origineller und für mich sehenswerter als das zwischen Originaltreue und kurzen, eigenen Ideen wechselnde Remake. Jedenfalls, solange diese hypothetische Version des Films ein Ärgernis vermeidet, über das ich mich schon im folgenden Artikel beklagt habe:

Über diese Szene in "Lilo & Stitch" wird viel zu wenig geredet – dabei stört es in so vielen Filmen

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